Rupert Wimmer, es wird hier in der Stadt reichlich über Veloinfrastruktur, Parkplätze und den öffentlichen Verkehr gesprochen. Vom Fussverkehr ist aber selten die Rede. Warum ist das so?
Rupert Wimmer: Es stimmt, man hört fast nichts vom Fussverkehr. Obwohl jeder Weg mit einem Fussweg beginnt, egal ob mit ÖV, Velo oder Auto. Ein Grund dafür ist, dass gegenwärtig andere Lobbygruppen lauter sind. Deshalb besteht die Gefahr, dass der Fussverkehr unter die Räder kommt. Wortwörtlich. Dabei hat Zürich aufgrund seiner Grösse und seiner Struktur und aufgrund seines Verkehrssystems gute Voraussetzungen für den Fussverkehr. Dieser hatte auch einmal eine höhere Gewichtung. Ich persönlich bin der Meinung, dass der Veloverkehr in Zürich keine guten Voraussetzungen hat, und wir müssen unbedingt Verbesserungen erzielen – aber wir müssen stark aufpassen, dass das nicht zulasten des Fussverkehrs geht.
Aber es werden doch in erster Linie viele Parkplätze eliminiert?
Ja, das geschieht. Aber vor allem stellen wir fest, dass mit der Veloförderung die Vorstellung zurückgekommen ist, dass jedes Verkehrsmittel seinen Raum braucht. Doch der Stadtraum wird nicht grösser. Die Qualität des Fussverkehrs jedoch muss erhalten oder sogar weiter ausgebaut werden. Dem Bund ist anzulasten, dass er den Fuss- und den Veloverkehr im Langsamverkehr zusammenfasst. Wohl sind Fuss- und Veloverkehr ähnlich schwache und ähnlich vulnerable Verkehrsteilnehmer, aber sie sind völlig unterschiedlich – in Bezug auf ihre Bedürfnisse und auf ihre Geschwindigkeiten. Ich finde das bedenklich. Denn die Zukunft des Verkehrs innerhalb der Stadt ist insgesamt langsam.
Der Fussverkehr spielt im Konzept der 15-Minuten-Stadt eine grosse Rolle. Greift man in Zürich auf dieses Konzept zurück?
Im kommunalen Richtplan ist die Polyzentrik festgehalten. Die Quartierzentren sollen gestärkt, es sollen lebendige Quartiere geschaffen werden. Wenn ich sehr viel in der Nähe erledigen kann, gewinnen der Fuss- und der Veloverkehr. Es gibt auch gar kein so grosses Bedürfnis mehr, mit dem ÖV zu fahren – oder nur für bestimmte Sachen. Was auch wichtig ist: Ich habe keine Einbusse in der Mobilität, aber in der Verkehrsleistung, weil ich sehr viel weniger weit fahren muss und damit weniger Verkehr erzeuge. Deshalb ist die 15-Minuten-Stadt eigentlich im Richtplan verankert, sie heisst einfach nicht so. (Erläuterung des Begriffs «15-Minuten-Stadt» siehe unten.)
Gibt es denn schon konkrete Umsetzungen im Bereich Stärkung der Quartierzentren?
Bereits realisiert ist zum Beispiel das Quartierzentrum Schmiede Wiedikon, wo früher der Autoverkehr durch den Haltestellenbereich geführt wurde. Aktuelle Planungen betreffen das Quartierzentrum im Bereich der Nordbrücke, wo der Versuch mit der auffälligen Fahrbahngestaltung läuft, der zum Ziel hat, das Queren zu verbessern. Im Zusammenhang mit dem Tram Affoltern ist die Zentrumsentwicklung Affoltern im Gang. Dort soll in Kooperation mit der Migros der Zehntenhausplatz aufgewertet werden. An der Altstetterstrasse wird ebenfalls geplant.
Reden wir noch vom sogenannten Modalsplit, also dem Anteil der verschiedenen Verkehrsmittel am gesamten Verkehrsaufkommen. In Zürich wird für den Fussverkehr ein Wert von 25 Prozent angestrebt.
Es gibt drei Kennzahlen, um die Mobilität zu messen: Unterwegszeit, Distanz und Anzahl Wege. In der Schweiz sind die Menschen 80 bis 90 Minuten pro Tag unterwegs und legen im Durchschnitt 30 bis 35 Kilometer zurück. Bei der Anzahl Wege gäbe es auch die Möglichkeit, Etappen zu messen. Wir zählen drei Etappen, wenn ich zu Fuss zur Tramhaltestelle gehe, dann mit dem Tram fahre und von der Haltestelle zu meinem Arbeitsplatz wieder zu Fuss gehe. Aber wenn es zu einem Weg zusammengefasst wird, ist es ein ÖV-Weg, weil das Hauptverkehrsmittel zählt. Damit fallen zwei Fusswege weg. Wir haben überlegt, das Etappenkonzept zu verwenden. Aber der Wechsel von Wegen zu Etappen hätte die Kommunikation erschwert, wir müssten gegenüber der alten Strategie ganz andere Werte kommunizieren. Fachlich wäre das allerdings korrekter, und es würde dem Fussverkehr mehr Bedeutung geben.
In der Strategie ist auch festgehalten, dass weitere Fusswege «mit erhöhter Aufenthaltsqualität» geschaffen werden sollen, im Fachjargon «Stadtwege+».
Das Ziel dieser Stadtwege+ ist, gute Verbindungen in Naherholungsgebiete zu schaffen, aber vor allem auch, die Naherholung schon auf diesen Wegen beginnen zu lassen. Das bedingt eine gute Durchgrünung, eine gute Aufenthaltsqualität und eine gute Klangqualität. Es geht dabei nicht einfach um die Höhe des Geräuschpegels, sondern um die Qualität des «Lärms». In unterschiedlichen Umgebungen wird der Lärm unterschiedlich wahrgenommen.
Einen Fachbegriff möchte ich noch klären: In einem Vortrag von Ihnen habe ich das Wort «endowment» angetroffen. Was hat es damit auf sich?
Da geht es um einen psychologischen Effekt: Wir Menschen bewerten immer das, was wir haben, höher als das, was wir erhalten. Der Psychologe Daniel Kahneman hat dies in seinem Buch «Schnelles Denken, langsames Denken» beschrieben. Im Falle von Planungen bekommen wir es stets mit Verlustängsten zu tun. Bei der Kommunikation müssen wir herausstreichen, was wir gewinnen, damit wir die Zustimmung der Bevölkerung erreichen.
Interview: Tobias Hoffmann