Tobias Hoffmann
«Jeder Weg beginnt mit einem Fussweg.» Das ist einer der ersten Sätze, den Rupert Wimmer, Leiter Verkehr + Stadtraum der Stadt Zürich, im Gespräch verlauten lässt (vgl. Interview unten). Eine simple Wahrheit, gewiss. Aber das Selbstverständliche wird oft nicht beachtet und in der Konsequenz auch gar nicht wirklich wertgeschätzt.
Aber bevor wir das wiedergutzumachen versuchen und das Loblied auf das Zufussgehen anstimmen, zitieren wir noch FDP-Stadtrat Michael Baumer, den Chef des Departements der Industriellen Betriebe, zu dem auch der öffentliche Verkehr gehört. Im Vorwort zur Strategie «Stadtraum und Mobilität 2040» schreibt Baumer: «Zürich ist eine ÖV-Stadt: Der öffentliche Verkehr gehört zu unserem Stadtraum und ist ein Schrittmacher der Stadtentwicklung. Neben unseren Füssen ist der ÖV das flächeneffizienteste Fortbewegungsmittel.» Baumer hätte Zürich also auch eine ÖV- und Fussgängerstadt nennen können. Und überhaupt: Der ÖV als Schrittmacher? Nicht doch, wir alle sind als Fussgänger die wahren Schrittmacher.
«Funktionsfähige Quartierzentren»
Nun muss man gleich etwas Entscheidendes einschieben: Stadt ist nicht gleich Stadt. Wie jede grössere Stadt hat Zürich einerseits eine dicht bebaute Innenstadt und andererseits Aussenquartiere, die mehr oder weniger peripheren Charakter haben. Witikon, Affoltern und Leimbach sind mit Wiedikon, Aussersihl und dem Seefeld kaum zu vergleichen. Dazu kommt die historisch gewachsene Entflechtung von Wohn- und Arbeitsgebieten.
Sagen wir so: Wohl kein einziger Bewohner Witikons wird zu Fuss in die City zum Arbeiten oder Einkaufen gehen. Die Distanzen müssen schrumpfen, damit Zufussgehen zur Option wird. Dass Wohnen und Arbeiten für den überwiegenden Teil der Bevölkerung wieder nahe zusammenrücken, ist jedoch nicht absehbar und vermutlich illusorisch. Und was als zumutbare Fussdistanz gilt, variiert von Mensch zu Mensch. In der Fachwelt der Planer ist der Wert von 15 bis 20 Minuten das Mass aller Fuss- und Velowege.
Und dieses Mass kann in Zukunft mehr Bedeutung erhalten, wenn Zürich weiter in diesem Tempo verdichtet wird, zumal in Quartieren wie Seebach, Affoltern und Leutschenbach. Der kommunale Richtplan vom 13. Juni 2022 reagiert auf diese Entwicklung mit dem Fokus auf «funktionsfähige Quartierzentren». So heisst es dort: «Mit der Zunahme der Bevölkerung und der baulichen Verdichtung […] wächst die Bedeutung der Quartierzentren mit ihren öffentlichen Stadträumen und Plätzen.» Weiter liest man, gut gestaltete Freiräume und bedarfsgerecht konzipierte Plätze würden zu lebendigen und lebenswerten Quartieren führen und die bewährte polyzentrische Struktur der Stadt stärken. «Zusätzliche Bewohner/-innen in einem Stadtteil führen zu einer erhöhten Nachfrage nach gut erreichbaren Orten mit verschiedenen Angeboten.»
Erlebnisorientierte Fortbewegung
Ins konkrete Beispiel übersetzt muss das wohl heissen, dass gut gestaltete Quartierzentren in boomenden Quartieren dazu führen, dass die Wege zur Erfüllung täglicher Bedürfnisse häufiger lokal absolviert werden – zu Fuss oder allenfalls mit dem Velo. Die städtebauliche Qualität als Lenkungsmassnahme, sozusagen.
Eine weitere Kategorie im Richtplan mit grossem Einfluss auf den Fussverkehr sind «Fussverbindungen mit erhöhter Aufenthaltsqualität», die gefördert werden sollen. Darunter fallen zum Beispiel Wege «entlang von Baumreihen, Alleen oder grünen Achsen» oder auch «Promenaden oder Steige mit Aussicht». Solche Wege sollen sich zu einem «eigenständigen und zusammenhängenden Netz» fügen. Dieses Netz würde es ermöglichen, sich erlebnis- und nicht in erster Linie tempoorientiert quer durch die Stadt zu Fuss zu bewegen.
Der Fluch der vier Jahreszeiten
Nun zurück zu den ominösen 15 Minuten: Welchen Radius ermöglichen sie einem überhaupt? Mit dem Kartendienst Google Maps kann man spielerisch die Probe machen, der Routenplaner funktioniert auch für den Fussverkehr. Nehmen wir an, Sie haben Ihre Weihnachtspost auf die Sihlpost gebracht und wollen nun auf eine Tasse heisse Schokolade ins Café Sprüngli gehen. Das Auto nehmen kommt kaum in Betracht. Wenn Sie einigermassen gut zu Fuss sind, erreichen Sie den Paradeplatz gehend via Seidengasse und die Bahnhofstrasse in 15 Minuten. Um zur Tramhaltestelle an der Bahnhofstrasse oder am Stauffacher zu gelangen, benötigen Sie zu Fuss auch schon 9 bis 10 Minuten. Aber Hand aufs Herz: Würden Sie sich für den reinen Fussweg entscheiden?
In einer Viertelstunde wären Sie übrigens auch am Limmatplatz. Oder in der Stadtverwaltung an der Werdstrasse. Oder im Alten Botanischen Garten. Das ist als «Werbung» gedacht … Aber seien wir uns im Klaren darüber: Die Schweiz ist ein Land der vier Jahreszeiten. Das Wetter ist in der Regel das Unstabilste hierzulande, und es hat schon mancher Planung manchen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei grosser Kälte, Hitze oder Nässe hört bei vielen die Bereitschaft auf, auf eigenen Beinen zu gehen.