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Gesundheit
23.07.2024

Das Tier ist die Tür zum Menschen

Die mobile Tierarztpraxis für armutsbetroffene Menschen und ihre Tiere hat Mirjam Spring vor 20 Jahren ins Leben gerufen. Die Nachfrage ist seitdem ungebrochen hoch.
Die mobile Tierarztpraxis für armutsbetroffene Menschen und ihre Tiere hat Mirjam Spring vor 20 Jahren ins Leben gerufen. Die Nachfrage ist seitdem ungebrochen hoch. Bild: Karin Steiner
Für viele armutsbetroffene Menschen ist ihr Haustier der einzige konstante Partner in ihrem Leben. Seit 20 Jahren bekommen sie Unterstützung vom Gassentierarzt des Sozialwerks Pfarrer Sieber, falls dem Vierbeiner etwas fehlt.

Karin Steiner

Im Hinterhof der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Suneboge hat sich eine lange Schlange gebildet. Wie jeden Montagnachmittag steht die mobile Tierarzt­praxis des Sozialwerks Pfarrer Sieber im ­Garten, und Tierärztin Igna Woytena untersucht, behandelt und impft im Inneren ein Tier nach dem anderen.

Der grösste Teil der Leute ist jedoch gekommen, um Futter und anderes Zubehör für ihre Lieblinge zu beziehen. «Wöchentlich kommen über 80 Menschen zu uns», sagt Mirjam Spring, die den Gassentierarzt in Zürich vor 20 Jahren ins Leben gerufen hat. «Es ist ein niederschwelliger Bereich der Gassenarbeit. Das Tier ist die Tür zum Menschen. Über den Hund oder die Katze komme ich in Kontakt zu den Besitzern. Hilft man dem Tier, lassen sich die Menschen auch eher helfen.»

30 Jahre bei Pfarrer Sieber

Einen grossen Teil der Anwesenden kennt Mirjam Spring von der Gassenarbeit her, arbeitet sie doch schon seit 30 Jahren bei den Sieber-Werken. 1996 besuchte sie als Praktikantin die Berliner Gassenarbeit und lernte dort ein Gassentierarzt-Mobil kennen, welches Impfungen durchführte. Seitdem liess sie die Idee nicht mehr los, ein solches Angebot auch in Zürich auf die Beine zu stellen.

Als sich 2004 der Tierarzt Dr. Thomas Peyer bei Pfarrer Sieber meldete, der Freiwilligenarbeit im Pfuusbus leisten wollte und sich nach einem Telefon auch für die Gassentierarzt-Idee begeistern konnte, startete sie mit ihm zusammen. Von anfangs einmal pro Monat konnte innerhalb eines halben Jahres auf einmal wöchentlich aufgestockt werden.

Die Nachfrage war von Anfang an da. Grosse Unterstützung bekamen die beiden unter anderem von der Susy Utzinger Stiftung. Durch Spenden konnte das Projekt gut finanziert werden. Später kam auch noch die Tiertafel dazu. Hier spenden vor allem Futtermittelfirmen Restposten oder analog der Tafel für Menschen wird Futter, das im Detailhandel nicht verkauft wurde, weitergegeben. «Im Tierarztmobil wird hauptsächlich untersucht, geimpft und werden kleinere Behandlungen durchgeführt», erklärt Mirjam Spring. «Notwendige Operationen werden am Dienstag bei Igna Woytena in der Praxis durchgeführt.» Aus Geldspenden werden die Medikamente und Laborkosten finanziert sowie die Löhne von Mirjam Spring und der Tierärztin Igna Woytena.

Futter für Hund und Katze

Das Haustier ist oft der einzige Partner von Menschen, die aus irgendeinem Grund in die Armut abgeglitten sind. «Die Leute sorgen sich meist mehr um ihre Vierbeiner als um sich selber», sagt Mirjam Spring. So nehmen sie die langen Wartezeiten gerne in Kauf, um Futter und vielleicht auch eine kleine Leckerei für ihre Lieblinge zu bekommen.

Um vom Gassentierarzt profitieren zu können, muss man sich ausweisen können, dass man armutsbetroffen ist. Das Futter und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs wie Leinen, Halsbänder oder Kauartikel werden meist von Grossverteilern gespendet. Es gibt aber auch Privatpersonen, die nicht mehr gebrauchte Gegenstände und Futter abliefern. «Eine Frau bringt uns regelmässig ganze Schachteln Katzenfutter, die sie bei Aktionen einkauft.» Für das Futter müssen die Tierhaltenden nichts bezahlen, aber beim Tierarzt müssen sie sich mit einem Beitrag an den Kosten beteiligen. Der Rest wird aus Spenden bezahlt, ebenso ein Gehalt an Mirjam Spring und Igna Woytena.

Um Futter- und Geldspenden einzutreiben, ist Mirjam Spring unermüdlich im Einsatz. In Regensdorf hat das Team einen Lagerplatz für die Ware eingerichtet. «Meist hat es genug Nahrungsmittel, aber es gibt auch Engpässe, dann muss ich auf die Suche gehen. Aber ich bin mit Tierstiftungen gut vernetzt.»

Freiwillige helfen bei der Verteilung mit. Meistens ist ausreichend Futter vorhanden. Bild: Karin Steiner

Viele Tiere aus der Ukraine

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat die Zahl an armutsbetroffenen Menschen, die zum Gassentierarzt kommen, stark zugenommen. «Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen haben Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Haustiere auf die Flucht mitgenommen», so Mirjam Spring. «Viele der Tiere sind traumatisiert oder verletzt. Ich habe viele schreckliche Geschichten vernommen und Menschen mit schlimmen Verletzungen gesehen. Trotzdem liegt ihnen das Wohl ihrer Tiere am Herzen. Anfangs hatten diese Menschen keinen Zugang zu ihrem Geld. Und sie bekommen sehr wenig Sozialleistungen, so dass es für den Unterhalt des Hundes oder der Katze nicht reicht. Viele Leute glauben, dass es für die Haltung von Haustieren grössere Sozialbeiträge gibt. Aber das stimmt nicht.»

Missstände aufdecken

Zahlreiche Tierhalterinnen und Tierhalter leben unter dem Existenzminimum. Unter den regelmässigen «Kunden» gibt es auch einige aus der Hausbesetzerszene. Mirjam Spring versucht nicht nur, mit ihnen regelmässig ins Gespräch zu kommen, sondern hat auch ein Auge darauf, dass die Tiere gut gehalten werden, sonst greift sie ein. Ein Mann zum Beispiel ist mit einer Mutterhündin und vier schon ziemlich grossen Welpen auf dem Platz erschienen, die sogleich weggelaufen sind und vom Team wieder eingefangen werden mussten. «Hier setzen wir uns ein, dass die Jungtiere an einen guten Platz abgegeben werden und dass die Mutterhündin kastriert wird.»

Unter den Freiwilligen, die bei der Futterausgabe mithelfen, ist auch Ramona. Sie war einst selber armutsbetroffen und hat den Gassentierarzt kennen gelernt, als sie ihre Ratte zur Behandlung brachte. Inzwischen steht sie wieder auf eigenen Beinen. «Ich habe Hilfe bekommen und bin froh, jetzt etwas zurückgeben zu können», sagt sie. «Für viele dieser Menschen sind ihre Tiere der einzige Lebensinhalt, und sie sind sehr besorgt um sie. Tierliebe hat nichts mit Geld zu tun. Ich habe hier Kontakt zu vielen verschiedenen Leuten, von Rentnern bis zu Obdachlosen. Der Umgang mit manchen ist nicht ganz einfach, ab es sind immer spannende Begegnungen.»

Weitere Informationen: www.swsieber.ch

Karin Steiner
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