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Stadt Zürich
10.02.2023
18.07.2023 08:48 Uhr

Die Causa Bührle: Dem Vermächtnis eines kontroversen Kunstsammlers auf der Spur

Wurde vor 15 Jahren von einem Kunsträuber-Trio aus dem Privatmuseum Bührle in Zürich gestohlen: das auf 100 Millionen Franken geschätzte Gemälde «Der Knabe mit der roten Weste» von Paul Cézanne.
Wurde vor 15 Jahren von einem Kunsträuber-Trio aus dem Privatmuseum Bührle in Zürich gestohlen: das auf 100 Millionen Franken geschätzte Gemälde «Der Knabe mit der roten Weste» von Paul Cézanne. Bild: Kunsthaus Zürich / Sammlung Bührle
Vor 15 Jahren wurde Zürich zum Schauplatz des grössten Kunstraubs der Schweiz. Obgleich die damals aus der Sammlung Bührle gestohlenen Werke längst ihren Weg zurück ins Museum gefunden haben, hallt das umstrittene Vermächtnis des Kunstsammlers und Waffenfabrikanten Emil Bührle bis heute nach.

Dominique Rais

Es ist der 10. Februar 2008. Ein Sonntagnachmittag vor 15 Jahren. Vor der Stadtvilla an der Zollikerstrasse 172 im Zürcher Seefeld fährt ein weisser Opel Omega vor. Drei dunkel bekleidete und bewaffnete Männer steigen aus. Kurz vor 16.30 Uhr betreten die mit Sturmhauben maskierten Räuber das ehemalige Wohnhaus, in dem sich seit 1960 das Privatmuseum der Stiftung Bührle befindet.

Zu diesem Zeitpunkt halten sich im Museum gut ein Dutzend Besucher sowie einige Angestellte auf. Zum Herzstück der Kunstsammlung von Emil Georg Bührle (1890–1956) gehören zahlreiche bedeutende Werke französischer Malerei. Darunter Gemälde bekannter impressionistischer Künstler wie Paul Cézanne, Edgar Degas, Claude Monet und Vincent van Gogh. Auf die Werke jener Künstler hatten es auch die Räuber abgesehen.

Mit der Pistole im Anschlag zwingteiner der Männer die Leute im Foyer, sich auf den Boden zu legen. Die beiden anderen stürmen die Ausstellung, wo sie vier der Gemälde an sich reissen. Gerade mal drei Minuten hatte der Kunstraub gedauert.

Die Beute: «Der Knabe mit der roten Weste» von Paul Cézanne, «Ludovic Lepic und seine Töchter» von Edgar Degas, «Mohnfeld bei Vétheuil» von ClaudeMonet und «Blühende Kastanienzweige» von Vincent van Gogh. Der Gesamtwert der gestohlenen Gemälde: 180 Millionen Franken. ­«Wegen der unvorstellbar hohen Deliktsumme war das weltweite mediale Interesse an dem Fall damals riesig. Bis heute gab es bei der Stadtpolizei Zürich dahin gehend keinen vergleichbaren Fall», erinnert sich die heutige Medien­chefin der Stadtpolizei Zürich, Judith Hödl, im Gespräch mit Lokalinfo.

Infolge des Millionen-Kunstraubs rückt das Bührle-Museum, das bis dahin als Geheimtipp in Kunstliebhaberkreisen galt, in den Fokus der Öffentlichkeit. ­Allen voran die Erben des Kunstsammlers Emil Georg Bührle, auf dessen umfang­reicher Sammlung das Privatmuseum im Seefeld basierte, sehen sich mit scharfer Kritik am Vermächtnis des Kunstmäzens, der 1958 den ersten Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich finanzierte, konfrontiert. Denn der Reichtum der Bührle-­Familie und der Erwerb zahlreicher Werke ihrer Kunstsammlung, deren Wert von Kunstexperten auf rund 3 Milliarden Franken geschätzt wird, haben eine dunkle Vergangenheit.

Waffengeschäfte und Zwangsarbeit

Es ist Mitte der 1920er-Jahre als Emil Bührle Deutschland verlässt und nach ­Zürich kommt, um die Leitung der Werkzeug­maschinenfabrik Oerlikon zu übernehmen. Innert weniger Jahre baut er das Unter­nehmen zum seinerzeit grössten Rüstungskonzern der Schweiz aus.

Er beliefert die Nazis mit Waffen, schlägt aus dem Zweiten Weltkrieg Kapital. Doch Bührle, gebürtiger Deutscher, der 1938 in der Schweiz eingebürgert wurde, hat nicht nur Waffengeschäfte mit den Nazis gemacht, sondern über Tochter­firmen in Deutschland auch von der Zwangsarbeit in Konzentrationslagern der Nazis profitiert. Auch in der Schweiz setzte der schwerreiche Industrielle auf Zwangsarbeit, wie aus einer im August 2021 im «Beobachter» veröffentlichten Recherche hervorgeht.

In der sankt-gallischen Spinnerei und Weberei Dietfurt AG, die ab 1941 zu Bührles Firmen­imperium gehörte, wurden Hunderte minderjährige Mädchen aus dem angegliederten und von den Ingebohler Schwestern geführten «Fabrikkloster» Marienheim zwangsinterniert und zu Hungerlöhnen beschäftigt.

Vergangenen September gab das Sozialdepartement der Stadt Zürich, das die damaligen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen als «eines der dunkelsten Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte» bezeichnete, bekannt, dass jedes Zürcher Opfer von einst als Entschädigung einen kommunalen Solidaritätsbeitrag über 25'000 Franken erhalten soll. Darüber hinaus soll ein Forschungsbericht auch Bührles Verstrickung darin näher beleuchten. Klar ist: Mit der Zwangsarbeit maximierte der Zürcher Industrielle seinen Profit.

Sein eigentlicher finanzieller Reichtum rührte aber aus seinen Kriegsgeschäften. Und so vervielfachte er sein Vermögen von 8 Millionen Franken im Jahr 1938 auf 162 Millionen Franken im Jahr 1945. Das geht aus dem von einer Historiker­kommission der Universität Zürich im November 2020 veröffentlichten 234-­seitigen Forschungsbericht mit dem Titel «Kriegs­geschäfte, Kapital und Kunsthaus – Die Entstehung der Sammlung Bührle im historischen Kontext» hervor.

In Auftrag gegeben wurde dieser von der Stadt und dem Kanton Zürich in Absprache mit dem Kunsthaus Zürich und der Stiftung Bührle, der Trägerin der Bührle-Sammlung. Seine Waffengeschäfte bildeten die finanzielle Grundlage für seine spätere Kunstsammlung.

Auf der Spur der Kunsträuber-­Bande

18. Februar 2008: Bereits acht Tage nach dem Kunstraub kann die Zürcher Polizei einen ersten Teilerfolg verbuchen. Zwei der gestohlenen Ölgemälde, jene von Monet und van Gogh, werden im Fluchtauto, das die Räubern nach ihrem Coup bei der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli – unweit des Tatorts – auf einem öffentlichen Parkplatz abgestellt hatten, entdeckt. Vor Ort war damals auch Polizeisprecherin Judith Hödl. «Die Umgebung wurde weiträumig abgesperrt und Spezialisten des Forensischen Instituts wurden aufgeboten», erinnert sich Hödl.

  • Der Wert des 2008 gestohlenen impressionistischen Gemäldes «Ludovic Lepic und seine Töchter» von Edgar Degas wurde auf rund 30 Millionen Franken geschätzt. Bild: Kunsthaus Zürich / Sammlung Bührle
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  • Acht Tage nach dem Kunstraub wieder aufgetaucht: «Mohnblumenfeld bei Vétheuil» von Claude Monet (10 Millionen Franken) ... Bild: Kunsthaus Zürich / Sammlung Bührle
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  • ... und «Blühende Kastanienzweige» von Vincent van Gogh (40 Millionen Franken). Bild: Kunsthaus Zürich / Sammlung Bührle
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  • Wurde vor 15 Jahren von einem Kunsträuber-Trio aus dem Privatmuseum Bührle in Zürich gestohlen: das auf 100 Millionen Franken geschätzte Gemälde «Der Knabe mit der roten Weste» von Paul Cézanne. Bild: Kunsthaus Zürich / Sammlung Bührle
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Auf der Suche nach den Kunst­räubern und den beiden anderen gestohlenen Gemälden formierte sich damals die Operation «Europe Prsluk», die zeitweise bis zu 30 Fahnder aus sechs Ländern zählte. Eine im Fluchtfahrzeug gefundene Spur führt die Ermittler schliesslich nach Serbien, zu einem Verdächtigen, der wegen mehrerer Einbrüche in Juweliergeschäfte in der Schweiz bereits polizeilich verzeichnet war – ebenso wie seine beiden Komplizen, wie sich im späteren Verlauf der Ermittlungen herausstellen sollte.

Es folgt eine jahrelange Fahndung. Unter der Leitung der auf organisierte Kriminalität spezialisierten Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich zusammen mit Ermittlern der Zürcher Stadt- und Kantonspolizei sowie den serbischen Behörden kommt es zu gezielten Telefonüberwachungen und Observationen.

Schliesslich reisen verdeckte Ermittler der Zürcher Polizei nach Belgrad. Als Kaufinteressent getarnt gibt einer vor, Cézannes «Der Knabe mit der roten Weste», dessen geschätzter Wert sich auf 100 Millionen Franken beläuft, erwerben zu wollen. Nach einer Anzahlung von 1,4 Millionen Euro sollte das Gemälde letztlich für 2,8 Millionen Euro den Besitzer wechseln. Doch dann klicken die Handschellen.

Am 11. April 2012 verhaftet eine Spezialeinheit der serbischen Polizei in Belgrad vier Männer. Auf Anfrage von Lokalinfo bestätigt die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft, dass einer von ihnen damals dem Räubertrio angehörte, das das Zürcher Privatmuseum 2008 überfallen hatte.

Gut zwei Wochen nach den Verhaftungen in Serbien informierte die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft damals die Medien im Kunsthaus über den Ermittlungserfolg. Bei der Pressekonferenz ebenfalls zugegen war der Kunsthistoriker und langjährige Direktor der Stiftung Bührle, Lukas Gloor. Stolz präsentiert er die beiden wiederbeschafften Gemälde.

Jedoch hatte der Kunstraub seine Spuren an den Meisterwerken hinterlassen. Vor allem der Degas habe «gelitten». Es wurde durch Schnitte am Rand des Gemäldes beschädigt und auch die Leinwand selbst wurde in Mitleidenschaft gezogen.

Im Fall des Cézanne, der beim Zugriff in Belgrad zwischen zwei Kartons eingeklemmt im Dach eines Autos gefunden wurde, bezeichnete Gloor es hingegen als Wunder, wie wenig dem Bild passiert sei. Während «Der Knabe mit der roten Weste» nach seiner Restaurierung bereits wenige Monate später wieder ausgestellt werden konnte, sollte die Wiederherstellung des stark beschädigten «Ludovic Lepic und seine Töchter» weit länger dauern.

Der lange Weg der Aufarbeitung

Während mit der Verurteilung der am Zürcher Kunstraub beteiligten Männer, die Haftstrafen von zwischen vier und sieben Jahren kassierten, 2015 die Akte zum bis anhin spektakulärsten Kunstdiebstahl der Schweizer Geschichte geschlossen wurde, beschäftige stattdessen die Causa Bührle fortan die Schweizer Behörden.

Mit dem Einzug der 200 Leihgaben der Bührle-Sammlung in den Chipperfield-­Erweiterungsbau des Kunsthauses im Jahr 2021 sollte das Museum an internationalem Prestige gewinnen. Stattdessen aber entbrennt eine Debatte rund um den Umgang mit Bührles Vermächtnis, die sich zu einem schweizweiten Skandal um Nazi-­Fluchtgut ausweitete.

Scharfer Kritik sieht sich auch die Stadt ausgesetzt, denn schliesslich wird der Betreiber des Kunsthauses, der Verein Zürcher Kunstgesellschaft, von der Stadt subventioniert. Darüber hinaus wurde der Kunsthaus-Neubau mit Millionen aus dem kantonalen Lotteriefonds bezuschusst. Obwohl hinlänglich bekannt war, dass Emil Bührle während der NS-Zeit zahlreiche Werke aus vormals ­jüdischem Besitz erwarb, hatten es Stadt und Kanton ebenso wie die Stiftung Bührle und das Kunsthaus selbst versäumt, eine professionelle, unabhängige und umfassende Provenienzforschung vorzunehmen.

Inwiefern jüdische Sammler, die aus Nazi-Deutschland fliehen mussten, ihre Werke zwangsläufig gar unter Wert veräussern mussten, ist bis heute nicht gänzlich geklärt, wird infolge des Bührle-­Bebens aber derzeit durch eine Expertenkommission nachgeholt. Zuständig dafür: Fachleute und Kritiker der Sammlung Bührle sowie Vertreter jüdischer Verbände. Vergangenen September kamen sie erstmals zur konstituierten Sitzung des runden Tischs zusammen, geleitet vom Zürcher Staatsrechtsprofessor Felix Uhlmann.

Die Ergebnisse der Durchleuchtung der Provenienz jener strittigen Werke der Sammlung Bührle sollen voraussichtlich Anfang 2024 vorliegen. Und so dauert die Aufarbeitung der Causa Bührle mehr als 66 Jahre nach dem Tod des Kunstsammlers, Waffenfabrikanten und einst reichsten Mannes der Schweiz weiter an.

Dominique Rais