Roger Suter
Am 15. Oktober erinnert der «Tag des weissen Stocks» an die Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen. Diesmal geht es um den Verkehr, genauer um die Vortrittsregel zu ihren Gunsten. Für Monika Stoffel aus Opfikon sind die lautlosen Elektrofahrzeuge, vor allem aber die kreuz und quer abgestellten E-Trottis eine grössere Gefahr und ein permanentes Ärgernis.
Monika Stoffel erblindete mit 20 Jahren. Ursache war die falsche Medikation einer Krankheit, die sich bereits im Alter von 8 Jahren abzeichnete. Doch die heute 64-Jährige bestreitet den Familienalltag seit Jahrzehnten selbstständig. Die gelernte medizinische Masseurin betreibt in Opfikon ihre eigene Praxis.
Wenn sie draussen unterwegs ist, unterstützt sie Bungee, ein ausgebildeter Blindenführhund. Zu den täglichen Ritualen gehört der lange Spaziergang am Morgen mit dem 5-jährigen Labrador-Weibchen, bei dem Bungee auch «einfach Hund sein kann». «Wenn wir etwa einkaufen gehen, ist das hochkonzentrierte Arbeit für sie», weiss Monika Stoffel, die schon seit 1981 mit solch speziell ausgebildeten Hunden unterwegs ist. «Sie räumt mir viele Hindernisse aus dem Weg.» Denn auch mit dem Langstock, mit dem Blinde und Sehbehinderte ihren Weg gleichsam ertasten, indem sie ihn beim Gehen hin und her bewegen, kann man schmale Pfosten oder Stellplakate, sogenannte Passantenstopper, verfehlen und über sie stürzen. «Gerade die E-Trottis sind ein Fluch», findet Monika Stoffel, zumal sie allzu oft mitten im Weg, ja selbst auf Feldwegen stünden. Denn Bungee müsse sich dann jeweils für den besseren Weg entscheiden: Vorne um das Gerät herum, wo Monika Stoffel unter Umständen am Lenker hängenbleibt? Und bei Platzmangel vielleicht sogar auf die Strasse?
Vortrittsrecht wird beachtet
Abgesehen davon ist der Gang zum Einkaufen vom Grossacker-Quartier nach Glattbrugg für Monika Stoffel und Bungee kaum ein Problem. «Die Bubenholzstrasse ist vom Verkehr her ruhiger, dafür hat es beim Schulhaus Mettlen eine Unterführung», erklärt Stoffel. «Da fühle ich mich trotz allem sicherer.» Sie sagt auch, dass die Vortrittsregel, für die der diesjährige Tag des weissen Stocks wirbt, gut funktioniert – sogar viel besser als früher. «Da ist es vorgekommen, dass Autofahrer noch Gas gegeben haben, wenn ich einen Schritt auf die Strasse gemacht habe», erzählt Stoffel.
Wichtig für sie sei, dass die Fahrzeuge ganz anhalten – wie man es auch bei Kindern gewohnt ist. «Das kann ich hören und dann die Strasse mit einem sicheren Gefühl überqueren.» Inzwischen kommt ihr aber auch hier wieder die E-Mobilität in die Quere: Die bis auf das Rollgeräusch praktisch lautlosen Fahrzeuge sind für Blinde und Sehbehinderte, die «mit dem Gehör durch die Strassen gehen», schwierig zu orten. Monika Stoffel würde deshalb ein künstlich erzeugtes Geräusch begrüssen.
In Opfikon und Glattbrugg kommt noch der Fluglärm als Hindernis hinzu: «Wenn ich nichts anderes mehr höre, gehe ich nicht auf die Strasse, sondern warte», so Monika Stoffel. Aber über die Flieger schimpfen will sie nicht: «Ich bin hier aufgewachsen, und wen es stört, der muss nicht hier wohnen.» Ebenfalls schwierig ist es, wenn in der Nähe die Kirchenglocken läuten.
Bungee hingegen bringt auch der Lärm nicht von ihrer Führungsaufgabe ab: «Sie geht erst los, wenn ich ihr den Befehl gebe. Ansonsten benutzt sie vor allem ihre Augen.» Insgesamt habe sich die Situation für Blinde verbessert, findet Monika Stoffel. «In den 1980er-Jahren war man ein Exot», erzählt sie, «und als Behinderte gehörte man irgendwie nicht zum Leben dazu.» Es sei vorgekommen, dass sich ihr Leute in den Weg gestellt, dann aber meist blaue Flecken an den Schienbeinen davongetragen hätten. Oder dass sie Leute aus falsch verstandener Hilfsbereitschaft am Arm gepackt, irgendwo hingeführt und dann stehen gelassen hätten – und sie nicht mehr wusste, wo sie war. «Deshalb: Immer zuerst fragen, ob man helfen soll», wünscht sich Monika Stoffel. Das komme hin und wieder vor, und je nach Situation lässt sie sich auch gerne helfen. «Etwa, um beim Einsteigen in den Zug die Türen zu finden», erläutert Stoffel. Bei den alten Zügen seien die Türen jeweils offen gestanden, sodass man sie auch mit dem Stock gefunden habe. «Heute muss ich tasten und hoffen, den Knopf zu finden.»