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Gesundheit
23.01.2024
24.01.2024 20:42 Uhr

Altersmedizin, das «tolle» Fach

Mobilität und Kraft gehen fast immer Hand in Hand …
Mobilität und Kraft gehen fast immer Hand in Hand … Bild: Stadtspital Zürich
Die Geriatrie im Stadtspital Zürich Waid wird zu einem Universitären Zentrum für Altersmedizin ausgebaut. Wie funktioniert Altersmedizin überhaupt? Wo liegen die grossen Herausforderungen? Antworten von Chefärztin Berta Truttmann.

Text und Interview: Tobias Hoffmann

Die demografischen Herausforderungen der Zukunft sind als Thema allgegenwärtig, ob im Zusammenhang mit der AHV oder dem Gesundheitswesen. Deshalb hier nur kurz ein paar beeindruckende Zahlen: Gemäss einem Szenario des Bundes wird bis 2050 ein Wachstum der Schweizer Bevölkerung um 1,75 auf 10,5 Millionen erwartet. Zwar wird die Zahl der jungen Menschen bis 19 Jahre auch zunehmen, doch der Löwenanteil geht aufs Konto der Seniorinnen und Senioren (65+): Eine gute Million mehr werden es sein. Und die Zahl der Menschen über 80  soll von 0,46 auf 1,11 Millionen steigen, was einer prognostizierten Zunahme von sage und schreibe 140 Prozent entspricht.

Alle Betten für Altersmedizin im Stadtspital Waid

Vor diesem Hintergrund lässt die Gründung eines Universitären Zentrums für Altersmedizin am Stadtspital Waid aufhorchen. Macht man sich hier für die zukünftigen Anforderungen bereit? Auf Beginn dieses Jahres hat es seinen Betrieb aufgenommen, als Kooperation zwischen dem Stadtspital Zürich (STZ), dem Universitätsspital Zürich (USZ) und der Universität Zürich (UZH). Im Grunde handelt es sich allerdings nur um die Fortsetzung einer bewährten Zusammenarbeit und um die räumliche Konzentration im Waid, wie Maria Rodriguez vom Stadtspital Zürich erklärt. Die Betten für Alters­medizin am USZ wurden einfach ans Waid verlegt, wo nun zurzeit 54 Betten zur Verfügung stehen, mit einer Option für eine Erweiterung. Von einer Neugründung kann somit keine Rede sein. Bemerkenswert ist immerhin, dass nun der Lehrstuhl für Altersmedizin im Waid angesiedelt ist, als erster Lehrstuhl am Stadtspital. Ob das der Auftakt zu einer umfassenden Vernetzung der Zürcher Gesundheitsinstitutionen ist?

Was tun für ein gutes Leben im Alter?

Die Altersmedizin in Zürich ist wesentlich geprägt von Heike Bischoff-Ferrari, die 2013 den neu geschaffenen Lehrstuhl für Geriatrie und Altersforschung erhielt. International bekannt ist sie als Leiterin der 2012 lancierten europäischen Altersstudie «Do-Health», in der positive Faktoren für ein gutes Leben im Alter erforscht wurden. Unter anderem wies die Studie die wichtige Rolle von Vitamin D bei der Sturzprävention nach. Mit der Bündelung der Altersmedizin im Waid hat Bischoff-Ferrari die akademische Leitung des Zentrums übernommen und sorgt für die internationale Vernetzung der Forschung. Die klinische Leitung liegt nun in den Händen der erfahrenen Geriaterin Berta Truttmann, die die meisten Karrierestufen am Stadtspital Waid durchlaufen hat.

Berta Truttmann ist seit Januar 2024 Chefärztin Altersmedizin im Stadtspital Waid. Bild: Stadtspital Zürich

Wir treffen Berta Truttmann an einem regnerischen Freitag im Waid. Und haben am Schluss des Gesprächs Lust, 100 Jahre alt zu werden.

Lokalinfo: Frau Truttmann, fangen wir doch mit einem konkreten Thema an, das den Alltag vieler alter Menschen belastet: die Gefahr des Stürzens. Wie präsent ist es in Ihrem Klinikalltag?

Berta Truttmann: Das ist ein grosses und zentrales Thema, denn ein Sturz ist oft der Grund, wieso jemand hospitalisiert wird. Wenn ein älterer Mensch über 80 stürzt und sich verletzt, gelangt er bei uns vom Notfall her immer ins Zentrum für Gerontotraumatologie. Wenn er operiert werden muss, wird er danach jeweils von einem Orthopäden und einer Altersmedizinerin betreut. Wenn keine Verletzung vorliegt oder eine, die keinen operativen Eingriff erfordert, kann es sein, dass die Person trotzdem hospitalisiert werden muss, weil sie nicht mehr mobil ist. In diesem Fall kommt sie direkt oder nach ein, zwei Tagen auf die altersmedizinische ­Abteilung.

Welche Aufgaben übernehmen Ihre Mitarbeitenden dort?

Durch einen Sturz werden andere gesundheitliche Probleme der Patientin sichtbar. Nehmen wir einen Fall, wo jemand stürzt und sich den Kopf anschlägt, was eine Hirnerschütterung zur Folge hat. Für einen jüngeren Menschen ist das eine leichte Verletzung, bei einem älteren Menschen kann sie zu einem sogenannten Delirium führen: Die Patientin ist nicht mehr klar im Kopf, ist kognitiv eingeschränkt. Auch das kann die Ursache für eine Hospitalisierung sein. Dann folgen eine Befragung und eine genaue körperliche Untersuchung mit Labor, Röntgenbildern usw. Wir versuchen, den Sturzursachen auf den Grund zu kommen. Diese können sehr verschieden sein: ob Covid-­Ansteckung oder Lungenembolie, Blasenentzündung oder Divertikulitis (Darmentzündung). Die Patientin kann in vielen Fällen gar nicht ausdrücken, dass und warum sie sich krank fühlt.

Ist es tendenziell ein Problem alter Menschen, dass sie nicht mehr klar ausdrücken können, was ihnen zu schaffen macht? Und wie sieht es mit der Kommunikation aus, wenn man an die vielen Einwanderer aus Ländern wie Spanien, Portugal, Ex-Jugoslawien, der Türkei usw. denkt, die nun auch in ein höheres Alter kommen? Wie kommt man an sie heran, wenn sie nicht oder kaum Deutsch sprechen?

Es ist fast unser tägliches Brot, dass wir uns mit schwieriger Kommunikation beschäftigen müssen. Die einen Patienten hören nicht gut, andere haben aus kognitiven Gründen Probleme, uns zu verstehen, bei wieder anderen gibt es sprachliche Barrieren, und schliesslich kommen auch Menschen zu uns, die gar nicht mehr reden können, zum Beispiel nach einem Hirnschlag. Dabei ist es wesentlich, dass wir mit den Angehörigen reden. Wir hatten soeben einen Mann aus dem Kosovo hier, der gar kein Deutsch konnte. Dennoch hat sich sein Sohn sehr bei uns bedankt, denn offensichtlich ist es uns gelungen, seinen Vater gut zu begleiten. Wir waren aber auf die regelmässige Hilfe des Sohnes angewiesen.

«Es ist fast unser tägliches Brot, uns mit schwieriger Kommunikation zu beschäftigen.»
Berta Truttmann, Chefärztin Altersmedizin

Wie ist es mit den psychischen Folgen? ­Einen Sturz nehmen doch viele als einen Rückschlag wahr, der ihnen anzeigt, dass es «abwärtsgeht».

Vor etwa zwei Wochen haben wir einen Patienten aufgenommen, der gestolpert und im eigentlichen Sinn in ein Loch gefallen ist. Es ist wirklich so, dass ein Sturz dazu führen kann, dass sich jemand total blockiert fühlt und denkt, das sei jetzt der Anfang vom Ende. Viele Menschen bekommen dann «Sturzangst», sie sind richtig gehemmt, sich zu bewegen. Bei der Altersmedizin wendet man vom ersten Moment an rehabilitative Methoden an. Man versucht, die Selbstständigkeit des Patienten zu erhalten oder zu verbessern, man plant ein tägliches Selbstständigkeitstraining. Bei psychischen Folgen versucht man auch, die seelische Not zu lindern. Dafür haben wir eine Psychotherapeutin. Und auch eine Musiktherapeutin haben wir: Musik geht den Leuten direkt ins Herz.

Kommen wir zum Thema Interdisziplinarität: Frau Bischoff-Ferrari hat in einem Interview geäussert, Altersmedizin sei ein besonders interessantes Gebiet, nicht zuletzt, weil es so interdisziplinär sei. Welche Disziplinen sind denn für die Altersmedizin besonders wichtig?

Alte Menschen haben typischerweise verschiedene Krankheiten. Wir sprechen dann von Polymorbidität. Daniel Grob, unser früherer Chef, hat jeweils gesagt, Altersmedizin sei für Assistenzärzte am ­interessantesten, weil alles zusammenkommt: Probleme mit der Haut, mit den Gelenken, mit dem Bauch, dem Herz, der Lunge ... Was also die Patienten betrifft, kommen wir nicht darum herum, mit allen in einer guten Kooperation zu sein. Für uns ist der Standort Waid ideal, weil wir viele der Fachspezialisten hier haben, und wenn nicht, haben wir sie vielleicht im Triemli. Austausch ist eigentlich unser tägliches Brot. Und ich schätze sehr, dass wir hier bei den Spezialisten ein hohes Niveau haben.

Die Selbständigkeit wiederherzustellen ist ein primäres Ziel der Altersmedizin. Bild: Stadtspital Zürich

Eine Frage zur Polymorbidität: Nehmen wir eine 90-Jährige, die an mehreren Krankheiten leidet und auch noch einen akuten Vorfall erlebt hat: Bei ihr wächst ja die Menge der möglichen oder nötigen Untersuchungen ins Riesige. Muss man hier nicht bereits eine Triage machen?

Einer unserer früheren Chefs hat jeweils gesagt: «Jetzt schreiten wir zum Äussersten und reden mit dem Patienten.» Das bedeutet: Wir klären mit den Patienten ab, was ihr Ziel ist. In den meisten Fällen ist es so, dass sie wieder nach Hause zurückkehren wollen. Wir müssen überprüfen, was dort die Bedingungen sind. Wir machen ein sogenanntes Assessment, mit dem wir herausfinden wollen, in welchen Bereichen es Dinge gibt, die nicht gut funktionieren. Danach definiert man mit den Patienten das Ziel und legt einen Behandlungsplan fest. Wir versuchen, in Orientierung am Patienten und seinen Zielen, zu bestimmen, was für ihn sinnvoll ist. Wir sind so etwas wie der Case Manager oder der Hausarzt, der versucht, den Überblick zu bewahren.

Die Polymorbidität führt dazu, dass alte Menschen oft viele verschiedene Medikamente zu sich nehmen. Wie diese sich vertragen, ist schwierig zu erforschen.

Das Medikamenten-Management ist ­eines unserer Kerngeschäfte. Zuerst muss man herausfinden, welche Medikamente der Patient einnimmt, was unter Umständen bereits zur Herausforderung werden kann. Wenn es der Patient nicht selber weiss, muss man die Spitex, den Hausarzt und die Spezialisten einbeziehen. Dann analysieren wir, ob der Patient die Medikamente wirklich braucht oder ob sie ihm vielleicht sogar schaden könnten. Wir suchen Alternativen oder überlegen uns, ob wir das eine oder andere weglassen können. Das Ziel dabei ist immer: So wenig wie möglich.

«Wir haben zurzeit mehrere über 100-jährige Patientinnen und Patienten, und das ist sehr bereichernd. Man muss keine Biografie von ihnen lesen, man erlebt diese Menschen, und das ist etwas ganz Tolles.»
Berta Truttmann, Chefärztin Altersmedizin

Der Personalmangel im Gesundheitswesen ist weiterhin ein akutes Problem. Wie sieht es mit dem Nachwuchs bei der Alters­medizin aus?

Seit über 30 Jahren bin ich nun Ärztin und finde Altersmedizin immer noch das beste Fachgebiet (lacht). Wir haben zurzeit mehrere über 100-jährige Patientinnen und Patienten, und das ist sehr bereichernd. Man muss keine Biografie von ihnen lesen, man erlebt diese Menschen, und das ist etwas ganz Tolles. Das Personal, das bei uns arbeitet, nimmt diese Begeisterung meistens mit. So haben wir ­eigentlich auch keine Nachwuchspro­bleme. Allerdings: Spezialisten in Innerer Medizin mit Schwerpunkt Geriatrie (das dauert noch einmal drei Jahre) gibt es nicht wie Sand am Meer. Das Fach ist aber auf jeden Fall attraktiv für Ärzte, die Patientinnen gerne ganzheitlich betrachten. Und das «Patientengut» ist wie gesagt sehr dankbar. In der Inneren Medizin hat man es oft mit Zivilisationskrankheiten zu tun. Bei uns ist ein anderer Menschenschlag im Vordergrund. Diese Menschen haben das Leben bestanden und sind sehr alt geworden. Das ist etwas sehr Befriedigendes. Wir erleben selten total verbitterte Leute.

Die Zahl der Demenzkranken nimmt zu, überhaupt die der älteren Menschen, die dann das Gesundheitssystem stark beanspruchen. Wie reagiert die Altersmedizin darauf?

Vor ein paar Monaten war eine Kollegin zwischenzeitlich hier zum Arbeiten. Beim Mittagessen habe ich gemerkt, dass man sich heute bereits in jüngeren Jahren Gedanken darüber macht, was zu tun ist, um gesund alt zu werden. Sofort war das Thema: Wer macht was? Wer bewegt sich wie viel? Die eine isst kein Fleisch, der andere keinen Zucker. Präventive Massnahmen sind also bei unseren Mitarbeitenden ein Thema. Und natürlich auch bei Frau Bischoff-Ferrari, die intensiv nach Massnahmen sucht, mit denen sich die gesunde Zeit im Alter verlängern lässt, die  Zeit, in der man selbstständig bleiben kann. Und was die Demografie betrifft: Es wäre dumm, wenn man blind in die zukünftigen Entwicklungen hineinstolpern würde. Wir alle müssen uns die Frage stellen, was wir nach der Pensionierung machen werden, ob wir weiterarbeiten, nur noch die Freizeit geniessen oder auch ­einen Beitrag an gesellschaftliche Aufgaben leisten wollen.

Tobias Hoffmann/Zürich24
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