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Kultur
23.09.2023
23.09.2023 07:48 Uhr

Goethes Monat in Limmat-Athen

Der charismatische Theologe und Physiognom Johann Caspar Lavater war es, der Goethe nach Zürich lockte. In Lavaters damaliger Wohnung in der «Reblaube» übernachtete Goethe 1779. Heute ist die Weinstube in die Südsee abgedriftet.
Der charismatische Theologe und Physiognom Johann Caspar Lavater war es, der Goethe nach Zürich lockte. In Lavaters damaliger Wohnung in der «Reblaube» übernachtete Goethe 1779. Heute ist die Weinstube in die Südsee abgedriftet. Bild: Tobias Hoffmann
Johann Wolfgang von Goethe reiste dreimal in die Schweiz, und jedes Mal machte er in Zürich Station. Eine zweibändige Publikation dokumentiert nun diese drei Reisen und schlägt 25 Wanderungen auf Goethes Spuren vor. Schauen wir, welche in Zürich zu finden sind.

Tobias Hoffmann

Um 1775 war Zürich, man kann es nicht anders sagen, ein ziemliches Kaff. Es zählte rund 11'000 Einwohner, die sich auf dem Gebiet der heutigen Altstadt drängten; diese war zu Fuss wohl in einer halben Stunde zu durchmessen. Nur so zum Vergleich: London und Paris zählten damals bereits gegen eine ganze bzw. eine halbe Million Einwohner. Als der knapp 26-jährige Johann Wolfgang Goethe (noch ohne von) 1775 zum ersten Mal in Zürich auftauchte, tat er das sicher nicht der Stadt wegen. Diese war für ihn Durchgangs­station zu den Schweizer Alpen, die sich als Sehnsuchtsziel naturschwärmerischer Menschen zu etablieren begannen.

Aber Zürich, wo man seit 1712 in Frieden lebte und in den Genuss steigenden Wohlstands kam, war trotz konservativer Regierung ein Ort regen geistigen Lebens, der auch als «Limmat-Athen» bezeichnet wurde. In der Kleinstadt tummelten sich viele wissbegierige Menschen, die sich intellektuell oder künstlerisch mit halb Europa austauschten – darunter auch einige europäische Berühmtheiten wie der Maler und Idyllendichter Salomon Gessner (1730–1788) und vor allem der Theologe und Physiognom Johann Caspar Lavater (1741–1801). Und es war denn auch der charismatische Lavater, zu dem es Goethe in erster Linie hinzog.

Besuch aus dem Fürstenkaff

Goethes drei Schweizer Reisen (1775, 1779 und 1797) haben in der Geschichtsschreibung über den grössten deutschen Dichter schon längst ihren Platz. Dennoch ist es wertvoll, dass die Goethe-Gesellschaft Schweiz diesen Reisen nun eine zweibändige Publikation widmet. Im ersten Band werden die Reisen «in ihrem genauen zeitlichen und topografischen Ablauf» präsentiert und mit einer Montage von Zeugnissen verschiedener Autoren dokumentiert; der zweite Band stellt 25 Wanderungen vor, dank derer man Goethes Wege nachvollziehen und die Schweiz von damals nacherleben kann.

Blick vom ehemaligen Gasthaus Schwert am Weinplatz auf das Grossmünster, die Münsterbrücke und den «Storchen». Die kolorierte Umriss­radierung von Johann Jakob Aschmann aus dem Jahr 1781 zeigt, dass Zürich damals noch eine reine Flussstadt war. Bild: Zentralbibliothek Zürich

Die Zürich gewidmete «Wanderung» (die Nummer 2 im Band) soll uns hier Leitschnur sein für ein kleines Porträt des Goethe-Zürich. «Wanderung» ist hier angesichts der eingangs erwähnten Kleinstadtdimensionen angeführt, Stadtrundgang trifft es eher. Aber wenn auch Zürich nicht das Primärziel Goethes war, so besuchte er die Stadt doch auf allen seinen Reisen und hielt sich hier insgesamt mehr als 30 Tage auf. «So kann man zu Recht behaupten», heisst es deshalb in der Publikation, «dass Zürich der Goethe-Ort in der Schweiz ist.» Der «Monat» im Titel dieses Artikels ist also vielleicht etwas irreführend, aber ganz falsch ist er nicht.

Zürich sah natürlich vor rund 250 Jahren völlig anders aus als heute, aber was damals das Ganze war, ist heute als Altstadt noch gut wiederzuerkennen – auch wenn das Grossmünster damals unbehelmt über eine noch fromme Stadt wachte. Einige Gebäude, in denen Goethe wohnte oder verkehrte, existieren nach wie vor, namentlich alle jene, die mit Lavater verbunden sind. Da ist zum Ersten das Haus «Zum Waldries» am Napfplatz, das Elternhaus Lavaters, wo dieser 1775 als Pfarrhelfer selbst noch wohnte und wo auch Goethe unterkam.

1778 wurde Lavater Pfarrer an St. Peter mit Amtssitz im heutigen Lavaterhaus an der St. Peterhofstatt; seine Wohnung befand sich wenige Schritte dahinter im Haus «Zur Reblaube». Dieses ist, 1920 von einem Wirt mit Porträts und Inschriften verziert, das deutlichste Zeugnis für Goethes Aufenthalte.

Das Haus «Zum Waldries» am Napfplatz war Johann Caspar Lavaters Elternhaus. Dort hielt sich Goethe bei seiner ersten Schweizer Reise im Juni 1775 auf. Bild: Baugeschichtliches Archiv, Thomas Hussel

Bei seiner zweiten Schweizreise 1779 brachte Goethe seinen «Arbeitgeber», den gerade einmal 22 Jahre alten Carl August, Herzog des Duodezfürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach, in die Schweiz mit. Goethe hatte sich bewusst dem «tätigen Leben» zugewandt und war nun eine Art Minister in der noch kaffigeren Residenzstadt Weimar (6000 Einwohner). Während der Herzog im besten Hotel Zürichs, dem «Schwert», abstieg, übernachtete Goethe bei Freund Lavater.

Freundschaften und ihr Ende

1797 schliesslich, Goethe war inzwischen geadelt und hatte sich von Lavaters religiösen Vorstellungen entfremdet, übernachtete der angehende Dichterfürst auch im «Schwert» am Weinplatz. Das mittlerweile schon längst nicht mehr als Hotel genutzte Haus ist inzwischen mehrfach umgestaltet worden. Goethe schnitt Lavater konsequent; dafür traf er sich noch einmal mit Barbara Schulthess, mit der ihn Lavater schon 1775 bekannt gemacht hatte. Sie führte im – 1935 abgebrochenen – «Schönenhof» oberhalb der heutigen «Kronenhalle» einen literarischen Salon. Goethe bezeichnete sie lange als Seelenfreundin und korrespondierte ausgiebig mit ihr. Später brach Goethe den Kontakt allerdings ab; kurz vor ihrem Tod vernichtete sie alle seine Briefe.

Ein Fixpunkt bei den ersten beiden ­Besuchen Goethes in Zürich war das Bodmerhaus, ein barocker Landsitz oberhalb des Seilergrabens, heute Teil der Universitätsverwaltung. Gastgeber war der aus der deutschen Literaturgeschichte bekannte Literatur(gegen)papst Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Kunstkritiker, Literaturforscher, Übersetzer, Bibliotheks­förderer und selbst auch Dichter. Goethe konnte mit Bodmers Schriften nicht viel anfangen, genoss aber offenbar dessen Beredsamkeit und seinen Humor.

1797 übrigens wäre Goethe schliesslich beinahe zum Schweiz-Dichter geworden. Bei seinem Freund Heinrich Meyer in Stäfa stiess er auf den «Wilhelm Tell»-Stoff, überliess diesen später aber Friedrich Schiller, mit dem er in jenen Jahren aufs Engste zusammenarbeitete. Und so wurde Schiller, der seinen Fuss zeitlebens nie auf Schweizer Boden setzte, der Dichter des Schweizer Nationaldramas.

Im «Schönenhof» oberhalb des Bellevue wohnte Barbara Schulthess, die einen literarischen Salon führte. Goethe lernte sie 1775 kennen. Das Haus wurde 1935 abgerissen. Bild: Zentralbibliothek Zürich

Angaben zum Buch

Margrit Wyder, Barbara Naumann, Robert Steiger (Hg.):
«Goethes Schweizer Reisen».
Schwabe Verlag, Basel Berlin 2023.
Auch als E-Book erhältlich.

Buchpräsentation

Der Schweiz-Entdecker. Eine (nicht nur) literarische Reise auf Goethes Spuren 

Montag, 25. September 2023, 18.00–19.30 Uhr 

Zentralbibliothek Zürich, Hermann-Escher-Saal 

Mit Margrit Wyder, Barbara Naumann, Robert Steiger

Textlesungen: Michael Schwyter 

Musikalische Umrahmung durch den Altstadt-Chor 

Die reich illustrierte Publikation ist an der Veranstaltung 
für Fr. 39.– (statt 49.–) erhältlich.

Tobias Hoffmann