Tobias Hoffmann
Um 1775 war Zürich, man kann es nicht anders sagen, ein ziemliches Kaff. Es zählte rund 11'000 Einwohner, die sich auf dem Gebiet der heutigen Altstadt drängten; diese war zu Fuss wohl in einer halben Stunde zu durchmessen. Nur so zum Vergleich: London und Paris zählten damals bereits gegen eine ganze bzw. eine halbe Million Einwohner. Als der knapp 26-jährige Johann Wolfgang Goethe (noch ohne von) 1775 zum ersten Mal in Zürich auftauchte, tat er das sicher nicht der Stadt wegen. Diese war für ihn Durchgangsstation zu den Schweizer Alpen, die sich als Sehnsuchtsziel naturschwärmerischer Menschen zu etablieren begannen.
Aber Zürich, wo man seit 1712 in Frieden lebte und in den Genuss steigenden Wohlstands kam, war trotz konservativer Regierung ein Ort regen geistigen Lebens, der auch als «Limmat-Athen» bezeichnet wurde. In der Kleinstadt tummelten sich viele wissbegierige Menschen, die sich intellektuell oder künstlerisch mit halb Europa austauschten – darunter auch einige europäische Berühmtheiten wie der Maler und Idyllendichter Salomon Gessner (1730–1788) und vor allem der Theologe und Physiognom Johann Caspar Lavater (1741–1801). Und es war denn auch der charismatische Lavater, zu dem es Goethe in erster Linie hinzog.
Besuch aus dem Fürstenkaff
Goethes drei Schweizer Reisen (1775, 1779 und 1797) haben in der Geschichtsschreibung über den grössten deutschen Dichter schon längst ihren Platz. Dennoch ist es wertvoll, dass die Goethe-Gesellschaft Schweiz diesen Reisen nun eine zweibändige Publikation widmet. Im ersten Band werden die Reisen «in ihrem genauen zeitlichen und topografischen Ablauf» präsentiert und mit einer Montage von Zeugnissen verschiedener Autoren dokumentiert; der zweite Band stellt 25 Wanderungen vor, dank derer man Goethes Wege nachvollziehen und die Schweiz von damals nacherleben kann.