Tobias Hoffmann
Seraina Kobler erweist sich beim Treffen am Hafen Enge als lebhafte, ja beinahe übersprudelnde Erzählerin. Deshalb lassen wir sie im Folgenden vor allem erzählen. Aber nicht über die Inhalte ihrer bislang zwei Krimis – die zu lesen sich auf jeden Fall lohnt –, sondern über ihre Art des Erfindens und des Schreibens. Über die ganz spezifische koblersche Poetik. Oder, wie wir es im Titel nennen, ihre «Polizeipoesie».
Es war Koblers Vorschlag, uns hier zu treffen, hier beim mächtigen Löwen, der den nicht ganz so prächtigen Hafen Enge bewacht. In ihrem zweiten Krimi «Nachtschein» brennt an diesem Ort in einer spätherbstlichen Nacht ein Schiff, und danach ist der Löwe ganz schwarz von Russ. Wer darin ein Symbol für die seelische oder wie auch immer geartete Versehrung Zürichs sieht, liegt vielleicht nicht ganz falsch.
Koblers Kommissarin ist eigentlich keine. Rosa Zambrano arbeitet als Seepolizistin. Wie sie denn auf die Seepolizei gekommen sei, frage ich sie: «Ich bin im Herbst und Winter mit meinen Buben oft in der Badi Mythenquai, dort hat man ja einen Strand und so eine Ahnung von Meerglitzern. Wir haben oft Spaghetti auf dem Gaskocher gekocht und im See gekneippt. Und jedes Mal, wenn die Seepolizei vorbeigefahren ist, waren meine Buben ganz aufgeregt, und ich habe mir gedacht, hej, das ist schon ein cooler Job, so mit der Sonnenbrille auf dem Schiff. Schon damals dachte ich: Wenn ich jemals einen Krimi schreiben sollte, müssen es Seepolizisten sein. Die Krimiidee ist dann wieder verschwunden, aber wieder aufgetaucht, als ich auf die Idee gekommen bin, dass Krimis ein gutes Transportgefäss für gesellschaftliche Themen sind.»
Eine märchenhafte Seepolizei
Ich merke an, dass Zambranos Seepolizei ihren Standort am Forellensteig hat – den es ja offensichtlich nicht gibt. «Meine Seepolizei ist anders», meint Kobler. «Ich erlaube mir zu erfinden. Ein grosser Trend in der Literatur ist ja Autofiktion, ich bin fürs Erfinden. Ich spürte, dass ich am freisten bin, wenn ich eine fiktive Wache schaffe. Den Unterschied zwischen Stadt- und Kantonspolizei gibt es bei mir nicht.»
Ich werfe ein, mir sei aufgefallen, dass der Name der Stadt kaum genannt wird. Kobler findet, die Welt, die sie heraufbeschwöre, habe etwas Märchenhaftes. «Je genauer du etwas benennst, desto genauer bist du in der Realität verhaftet. Das Freischwebende hat sich bei mir ziemlich schnell ergeben. Wenn es darum geht, ein Milieu zu beschreiben, dann benenne ich die Dinge genauer, sonst ist eine Art Kunstsprache im Vordergrund. So beschreibe ich ein Zürich wie unseres und doch etwas anderes.»
Aber die Krimis würden doch als Zürich-Krimis bezeichnet? Das sei eine Marketingentscheidung des Verlages, nicht von ihr. «Rosa lebt in Zürich, aber sie blickt auf die Schweiz nicht wie eine Zürcherin. Ich habe ihr einige meiner Sehnsüchte mitgegeben, zum Beispiel den Garten mitten in der Altstadt. Ich habe gemerkt, dass es die Ruhe und die Kraft, die ich nur in einem Palazzo in Südbünden finden zu können glaubte, auch in Zürich an gewissen Orten gibt. Du bewegst dich ein paar Meter, und dann ist es wieder weg – aber es gibt sie. Das Atelierhäuschen, das ich für ein paar Jahre von der Stadt mieten durfte, ist ein solcher Ort. Vor ein paar Jahren war ich während des Zürifäschts dort, die ganze Stadt hat gewummert, aber bei mir war es ziemlich ruhig, wie in einem Garten Eden. In diesem Moment habe ich mir überlegt, wie es wäre, hier zu leben, und dann war diese Rosa plötzlich da und mit ihr vieles andere auch. Die Person ist sozusagen durch mich hindurchgelaufen.»
Koblers geheime Pläne
Eine Hauptfigur zu erfinden, ist das eine, aber einen Krimiplot? Wo es doch Tausende von Krimis und Krimiserien gibt? Wie sie denn vorgehe, möchte ich wissen. Sie baue ihre Krimis ganz anders als andere Autoren. «Meine Bücher sind oft nach einem Plan zusammengesetzt, den nur ich verstehe. Für jedes Element gibt es irgendeinen Grund. Nur so kann ich mir die Krimis ausdenken, nur so kann ich sie schreiben. Der erste Krimi war das Buch vom Sommer. Die Elemente sind mir wichtig, das Zyklische, die Jahreszeiten. Der zweite ist der des Winters, der Kälte, wo man sich nach innen wendet, wo die Hüllen wichtig werden, unsere Haut, unsere Kleider. Dazu kommt das Thema der Erinnerung. Und die Frage der Häuser – besitzen wir die Häuser, oder besitzen sie uns, weil sie uns überdauern? Das sind die Dinge, die bei mir am Anfang stehen.»
Zuletzt frage ich: Wenn man Serien schreibt, wird man dann möglicherweise immer besser? «Durchaus», findet Kobler, «man entwickelt sich innerhalb der Serie – davon bin ich überzeugt. Es war von Anfang an die Anlage, dass Rosa Seepolizistin ist; sie ist nicht Kriminalistin. Sie lernt. Und ich lerne mit ihr. Ich wollte nie so eine Figur haben wie einen Kommissar, der sein ganzes Revier schon seit 30 Jahren kennt wie seine Westentasche. Aus dessen Kopf heraus schreiben, das hätte ich mir nicht zugetraut. Jedes meiner Bücher darf in sich selbst anders sein. Ich möchte, dass sich die Figuren entwickeln können. Ich möchte in jedem etwas Neues erproben.»
Folge drei und vier hat Seraina Kobler bereits angedacht. Aber zuerst schreibt sie einen normalen Roman. Kein Zweifel: Sie sprudelt weiter.