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Stadt Zürich
30.07.2023
30.07.2023 18:59 Uhr

Der berühmteste Surprise-Verkäufer ist tot

Am 20. September wäre er 65 Jahre alt geworden. Nun wird man das berühmte Zürcher Original Ruedi Kälin nie mehr sehen  an seinem Arbeitsplatz auf der Strasse. Er starb vergangene Woche, wie es aus seinem Umfeld heisst.
Am 20. September wäre er 65 Jahre alt geworden. Nun wird man das berühmte Zürcher Original Ruedi Kälin nie mehr sehen an seinem Arbeitsplatz auf der Strasse. Er starb vergangene Woche, wie es aus seinem Umfeld heisst. Bild: Surprise/ zvg.
Wer kannte ihn nicht, den Bündner Surprise-Verkäufer Ruedi. Jetzt ist der 64-jährige Bergler mit dem wehenden Bart gestorben. Allein in seiner eben bezogenen, kleinen Wohnung am Stadtrand von Chur.

Er hatte für jeden Passanten und jede potentielle Kundin ein freundliches Wort übrig. Ruedi aus den Bündner Bergen mit dem urigen Davoser Dialekt und dem zerzausten weissen Bart. Sein Temperament spürbar wurde, wenn er über schnelle Velofahrer auf den Trottoirs in Zürich oder in der Bahnhofsunterführung Chur wetterte. Ruedi Kälin, wie er mit vollem Namen hiess, war der berühmteste Surprise-Verkäufer, wurde stolzer Markenbotschaften, wenn man dem so sagen darf. Dabei umwehte ihn eine geheimnisvolle Aura.

Die verpasste Nordamerika-Karriere

Denn er galt in den 70er Jahren als hochtalentierter Eishockeygoalie beim Hockeyclub Davos. Bis heute gibt es Stimmen, die sagen, dass er es durchaus in die berühmte nordamerikanische NHL hätte schaffen könnte. Doch eine schwierige Jugend und der Freitod seinen Vaters lenkten Ruedi Kälins Leben in andere Bahnen. Er lernte Hilfsmaler, hatte aber immer mal wieder Schwierigkeiten mit Autoritäten. So gelangte er an Vermieter, die ihm nicht nur Gutes wollten, wie es in einem einfühlsamen «NZZ»-Portrait von 2016 heisst. Nicht ganz freiwillig wurde Ruedi obdachlos, lebte viele Jahre auf der Strasse.

Besagtes Portrait in der Neuen Zürcher Zeitung war typisch für viele Berichte und Portraits, die zeigten, dass Ruedi das wohl berühmteste Zürcher Original und der bekannteste Surprise-Verkäufer der ganzen Schweiz geworden war. Seit über 20 Jahren verkaufte Ruedi die Arbeitslosenzeitschrift «Surprise» auf der Strasse. Vornehmlich in Zürich, etwa auf der Bahnhofbrücke, aber auch in Zug und in Chur. Stets mit einem Spruch zu seinem geliebten HCD, den er als Fan weiterhin verehrte.

Die Kündigung vor wenigen Monaten

In Chur lebte Ruedi Kälin schon seit vielen Jahren in einer bescheidenen Einzimmer-Wohnung. Vor wenigen Monaten musste er zügeln, weil das Wohnhaus abgebrochen wurde. Im schattigen, peripher in der Talgabelung Richtung Arosa und Lenzerheide gelegenen Meiersboden fand er eine neue Bleibe. Auf Zürich umgemünzt wäre das ungefähr in Oberleimbach im Sihltal. Dem Vernehmen nach war er nicht eben glücklich über diese Entwurzelung innerhalb der Kantonshauptstadt. Das hiess nämlich, noch früher als um vier Uhr aufstehen, damit er rechtzeitig an seinen Standplätzen die Hefte verkaufen konnte. Denn Ruedi war sehr pflichtbewusst, führte laut dem Portrait in der «NZZ» genau Buch über die verkauften Hefte und setzte sich stets das Ziel, gleichviele oder mehr Hefte als vor Jahresfrist zu veräussern. Nun aber kam alles anders.

Der Kampf um die Gesundheit

Gefunden wurde er vergangene Woche von einem Freund, der ebenfalls Surprise-Verkäufer ist. Ruedi starb allein in seiner neuen Wohnung, gezeichnet von seiner Krankheit. Denn er hatte Diabetes, kämpfte schon im Jahr 2020 um sein Leben, als eine schwere Infektion fast zur Amputation eines Beines führte. Seither humpelte der schmächtige Bergler mit dem wehenden Bart tapfer durchs Leben. Nun hat sich sein Lebenskreis geschlossen. Er wäre am 20. September 65 Jahre alt geworden. Dann hätte er seine Pension geniessen können. Dazu kommt es nun nicht. Ob es im Himmel auch eine Art Surprise-Institution gibt? Adieu, tschau und a revair, Ruedi. Ruhe in Frieden. 

Lorenz Steinmann