Nicole Seipp-Isele
Es ist ein Roadtrip, wie er im Buche steht: Ein Bus brettert vier Wochen lang Tausende Kilometer quer durch Sibirien. An Bord befinden sich Bands – immer vier bis fünf an der Zahl. Jeden Abend wird an einer anderen Konzertlocation Halt gemacht. Hop on – hop off. Dörfchen, Städte, Flughäfen, aber vor allem die endlose Weite von Tundra und Taiga haben die Musiker vor Augen.
Geschlafen wird im Sitz. Die einen hassen es und schwören, es nie wieder zu tun. Andere lieben es. Jochen Baldes und Franz Hellmüller haben sich mit Saxofon und Gitarre und mit Haut und Haar auf dieses Abenteuer eingelassen. Die beiden sind Weggefährten. Man versteht sich, tauscht sich aus, komponiert, jammt und tritt gemeinsam auf. Doch dieser Roadtrip birgt ganz neue Facetten an Inspiration und Zusammengehörigkeitsgefühl in sich.
Die grossen Fragen
Unterwegs im Nirgendwo kommen grosse Fragen auf. Jochen Baldes erinnert sich: «Was wäre, wenn wir hier aussteigen und in der Hütte an diesem abgelegenen See neu anfangen würden: Komponieren, Musikmachen und Fischen, um in dieser Weite zu uns selbst zu finden?» Vieles, was an produktiver Spannung aus Gedankengängen wie diesen resultiert, wird nach der russischen Tournee kompositorisch festgehalten. Das Ergebnis sind die Band «Bloom Effect», eine CD namens «The Way Out In» und eine einzigartige Freundschaft. «Franz und ich sind beide Musiker und Komponisten – das ist unser verbindendes Moment», erklärt Baldes. «Wenn ich mit ihm spiele, kann ich alles vergessen. Wir können reagieren, ohne zu denken, und er kreiert immer etwas Schönes.»
Franz Hellmüller zählt zu den besten Gitarristen der Schweiz. Er besitzt die Gabe, mit seinem Instrument immer voll da zu sein. Seine Qualität besteht in einer uneingeschränkten Aufmerksamkeit für die Gegenwart. Jochen Baldes ist erst spät zum Saxofon gekommen. Widmete er sich zunächst ganz der Malerei, wurde er durch einen Freund auf das Instrument aufmerksam und war sofort fasziniert. Seine Affinität für das Grafische findet sich in Baldesʼ filigranem Spiel.
Dabei wird nichts übersehen, auch feine musikalische Pinselstriche leisten ihren Beitrag zum grossen Ganzen. Tony Renold sitzt am Schlagzeug. Sein Beat, sein akribisches Timing und die rhythmische Farbigkeit sind aussergewöhnlich. Lässt er die Stöcke spielen, scheint es, als ob der Rhythmus eine Stimme bekäme und die Drums zu sprechen anfingen. Patrick Sommer am Bass wirkt wie eine Alma Mater. Er erdet die Band, agiert auch stets aus dem Moment heraus, und seine Spontaneität ist untrennbar daran gekoppelt, Sicherheit zu vermitteln. Vor allem im Bereich der tiefen Töne zeigt er das breite Timbre seines Instruments.
Baldes und Hellmüller verstehen sich als Co-Leader der Truppe «Bloom Effect». Alles, was sie auf Papier bringen und musikalisch erdenken, wird angereichert mit Ideen von Patrick Sommer und Tony Renold und kommt dadurch erst richtig zum Blühen. Das Zusammenspiel wirkt wie ein Wiedersehen alter Freunde, die, ganz abgesehen davon, wie lange sie sich nicht gesehen haben, genau dort weitermachen, wo sie aufgehört haben. Das Vokabular stimmt überein. Oder wie Jochen Baldes sagt: «Wir verstehen uns blind, ohne Abtasten und Scheu. Denn wir spielen alle seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen zusammen.»
Das Publikum von «Jazz im Seefeld» wird mitgenommen auf eine garantiert inspirierende Reise, wenn die Stücke von «The Way Out In» zum Besten gegeben werden. Die CD, die vor Corona produziert wurde und in der Corona-Zeit erschien, wird in den nächsten Wochen promotet, aber vor allem zelebriert. Analog zum sibirischen Abenteuer ist es eine Tour von A nach B, auf welcher jedem noch so kleinem Wegweiser nachgegangen wird, Details ins Rampenlicht gerückt werden und die Schönheit des Unterwegsseins zum Fest wird.