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Kultur
24.12.2022
12.12.2022 13:17 Uhr

Weihnachtsgeschichte: Der lange Weg zum Grossvater

«Grossvater, als mein Vater noch klein war, ging er doch im Sommer mit den Kühen hinauf auf die Gletscheralp, manchmal ganz allein. Und er hat mir erzählt, dass du als Belohnung dann wunderschöne Melodien auf dem Alphorn gespielt hast, die man im ganzen Tal gehört hat.»
«Grossvater, als mein Vater noch klein war, ging er doch im Sommer mit den Kühen hinauf auf die Gletscheralp, manchmal ganz allein. Und er hat mir erzählt, dass du als Belohnung dann wunderschöne Melodien auf dem Alphorn gespielt hast, die man im ganzen Tal gehört hat.» Bild: Illustration Frank Baumann
Eine Weihnachtsgeschichte aus Bruno Schlatters Weihnachtsbuch «Die himmelblaue Weihnachtstasse».

Draussen schneite es, drinnen knisterte das Holz im Feuer und spendete in der einfachen Bauernstube eine wohlige Wärme. Aus der Küche drangen verführerische Düfte von selbst gemachtem Weihnachtsgebäck. Die ganze Familie schien zufrieden. Nur der kleine Balzli machte allen grosse Sorgen. Ein hartnäckiger Husten plagte den Vierjährigen. Man hatte schon alles versucht, aber selbst die Medikamente des Dorfdoktors halfen nichts. Arno, der neunjährige Bruder, versuchte den hustenden kleinen Bruder zu trösten. Er las ihm aus einem Märchenbuch vor. Die betagte Tante Elsa, die seit Jahren bei der Familie lebte, sass am lodernden Feuer und wetterte zum hundertsten Mal, das auf die neumodische Medizin des Dorfdoktor keinen Verlass sei. «Da hilft nur ein Tee aus Heilkräutern, Wurzeln und Bienenhonig.» «Tante, höre bitte auf mit dem Hokus­pokus!», rief die Mutter aus der Küche.

Sie war einst aus der grossen Stadt ins kleine Dorf der Schweizer Alpen gekommen, um Ferien zu machen, und hatte da ihren späteren Mann Alois kennen gelernt. «Eine aus der Stadt kommt mir nicht ins Haus», hatte sich dessen Vater gegen die Heirat gesträubt, und so entzweiten sich Vater und Sohn. Schliesslich zog der alte Mann, der Grossvater von Arno und Balzli, auf die Alp hinauf in ein einfaches Häuschen, eher eine Hütte, und überliess das Haus im Tal seinem einzigen Sohn. Die Schwiegertochter und die zwei Enkel sah er ganz selten und nur von weitem, wenn er ins Dorf hinabstieg, um das Nötigste einzukaufen. Für den verbitterten alten Mann gab es keine Familie und keine Enkel, ja sogar von seinem Sohn wollte er nicht mehr wissen.

* * *

Vater Balzarini kam aus dem Stall und setzte sich in die Wohnstube. «Wie geht es meinem Balzli, hustet er immer noch so viel?», fragte er. «Ja», rief die alte Tante grimmig und schwatzte schon wieder von einem geheimen Wunderrezept mit Alpenkräutern. Arno, der das Husten des kleinen Bruders nicht mehr anhören konnte, fragte: «Wo gibt es denn dieses Wundermittel?» Sie zeigte hinauf zum Berg und sagte: «Der da oben, dein Grossvater, der hat diese Wurzeln und Kräuter, er ist ein ganz besonderer Doktor.»

Im Bett konnte Arno nicht einschlafen. Wenn er dem Bruder nur helfen könnte. Balzli war fiebrig, hatte einen heissen Kopf und hustete. Alpenkräuter mit Honig seien am besten gegen schlimmen Husten, hatte die Tante gesagt. Aber der Einzige, der solche Kräuter und Wurzeln kannte und sammelte, war offenbar der unbekannte Grossvater oben auf der Alp. Arno stand auf und ging zum Fenster, mit der Hand rieb er die Eisblumen der Scheibe. Es schneite nicht mehr, und Arno sah den Sternenhimmel. Plötzlich war ihm klar, wie er dem kranken Bruder helfen konnte. Schnell kleidete er sich an, schnürte seine schweren Schuhe, zog sich die Wollmütze über die Ohren und holte leise den kleinen Rucksack aus der Holztruhe. Vorsichtig öffnete Arno das Fenster und liess sich vom ersten Stock aus in den weichen Schnee fallen. Er sank fast bis zur Brust ein, und es dauerte eine Weile, bis er sich von den Schneemassen befreit hatte.

* * *

Endlich hatte er es geschafft. Zielstrebig stapfte er durch den Schnee. Wie ein guter Freund tauchte der Mond den Berg in ein fahles Licht. So vermochte Arno stets den markanten Berggipfel zu erkennen, an dessen Schulter die Hütte klebte, in der sein Grossvater wohnte.

Der Bub gönnte sich keine Pause, setzte Schritt um Schritt in den unberührten, im Mondlicht funkelnden Neuschnee. Endlich stand er keuchend vor dem einfachen Haus. Es dauerte fast eine Minute, ehe er sich überwand und mit seiner kleinen Faust an die schwere Tür hämmerte.

Der alte Mann erwachte sofort, zündete eine Lampe an und öffnete das Fenster. Er glaubte zu träumen. Da stand doch wahrhaftig mitten in der kalten Nacht ein Kind vor seiner Hütte. Arno nahm all seinen Mut zusammen und schrie: «Grossvater, ich bin es. Arno!» Der Alte schloss das Fenster, legte sich seinen Mantel über, stieg die steile Treppe hinab und öffnete die Tür.

«Komm herein», brummte er recht barsch. Als er sah, dass sich der Bub ein wenig vor ihm fürchtete, meint er: «Komm in die warme Stube.» Wirklich, der Ofen strahlte immer noch ein bisschen Wärme aus. Der alte Mann schob ein paar Holzscheite nach und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd. «Jetzt trinken wir einen heissen Tee zusammen, und dann erzählst du, warum du gekommen bist.»

Arno sass auf der Ofenbank und betrachtete seinen Grossvater. Er sah etwas unheimlich aus mit seinem grauen Bart und dem klaren, stechenden Blick. Auch der Alte betrachtete sein Gegenüber. «Man kann es nicht leugnen, er ist ein echter Balzarini», murmelte er in seinen Bart.

* * *

«Grossvater», begann Arno. Die Anrede kam ihm mühelos über die Lippen, und unbefangen erzählte er nun vom kranken Bruder, fragte nach den Wurzeln und Heilkräutern, welche die Tante erwähnt hatte. Dass er bislang nicht viel Gutes über die den Mann gehört hatte, vergass Arno ganz, denn sein Grossvater war ja der Einzige, der seinem kleinen kranken Bruder vielleicht helfen konnte.

Je mehr der Grossvater dem Buben zuhörte, desto stolzer wurde er auf seinen Enkel. «Vielleicht war mein Urteil über die Städterin doch etwas zu hart, sie ist jedenfalls die Mutter eines flotten Buben», dachte er. Die Anwesenheit des Enkels weichte die Kruste von Starrsinn und Hass gegen die Seinen immer mehr auf.

* * *

Unten im Dorf wurde der kleine Balzli von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt. Als die Mutter mit dem heissen Tee ins Zimmer der Buben trat, sah sie ihn sofort, den kleinen Zettel auf Arnos leerem Bett. «Ich bin oben beim Grossvater und hole die Medizin für Balzli», las sie. Voller Angst weckte sie ihren Mann. Der versuchte sie zu beruhigen und sagte, der Bub sei sicher gut oben angekommen, er gehe ihn jetzt holen. Aber auch der Vater machte sich grosse Sorgen darüber, dass Arno in einer so kalten Winternacht allein unterwegs war. Wie schnell konnte sich ein Kind verirren! Er machte sich sofort auf den Weg zur Hütte. Mit Tränen in den Augen schaute seine Frau ihm nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Auch der Grossvater oben auf dem Berg machte sich Gedanken. Bald war es Zeit zum Aufstehen, und die Eltern würden merken, dass Arno nicht da war. «Bub, sobald es hell wird, fahren wir zusammen mit dem grossen Heuschlitten ins Dorf hinab», sagte er.

* * *

Arno plagte jetzt das schlechte Gewis-sen wegen seines nächtlichen Ausflugs. «Grossvater, als mein Vater noch klein war, ging er doch im Sommer mit den Kühen hinauf auf die Gletscheralp, manchmal ganz allein. Und er hat mir erzählt, dass du als Belohnung dann wunderschöne Melodien auf dem Alphorn gespielt hast, die man im ganzen Tal gehört hat.»

Der Grossvater merkte nicht, worauf Arno hinauswollte, aber es freute ihn, dass sein Sohn dem Enkel von ihm erzählt hatte und dass er nicht vergessen worden war. «Weisst du, Grossvater, wenn du auf dem Alphorn eine fröhliche Melodie spielst, dann wissen meine Mutter und mein Vater, dass ich gut hier oben angekommen bin.»

Der alte Mann staunte, diese Überlegungen hätte er von einem Kind nicht erwartet. «Also, komm, wir holen das Alphorn.» Zuhinterst im Haus, zwischen Brennholz und Vorräten, lag ein grosser, brauner Sack. «Da ist es drin, aber wir müssen es zuerst zusammensetzen. Ziehe deine Jacke an, wir wollen vors Haus.» Mit sicherer Hand baute der Grossvater das Alphorn zusammen, jeder Handgriff sass, und dies, obwohl er es seit Jahren nicht mehr angerührt hatte. Dann endlich war es so weit. Der alte Mann setzte die Lippen an das Mundstück, und seine Lungen füllten sich mit Luft.

Unterdessen stieg Arnos Vater zügig den verschneiten Berg hinauf. Es wurde langsam Tag, und manchmal glaubte er die Hütte seines Vaters zu erkennen. Es war still, nur das Knirschen der schweren Schuhe war zu hören. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Ein Geräusch drang an seine Ohren, fremd und doch irgendwie vertraut. Es war ein Alphorn, eine liebliche Melodie, die er schon seit seiner Kindheit kannte. Er wusste sofort, wer spielte, es war sein Vater, der Grossvater oben auf dem Berg. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, dass Arno angekommen und wohlauf war. Die Schritte des Vaters wurden leichter, und frohen Herzens stieg er weiter den Berg hoch. Auch der Grossvater genoss sein Alphornkonzert, es war ihm, als spielte er sich dunkle Schatten und Wunden aus der Seele. «So, das haben sie im Tal sicher gehört, jetzt holen wir die Kräuter für dein Brüderlein, und dann geht es los, mit dem Heuschlitten hinunter zu deiner Mutter.»

Es war ein schönes Bild, wie der alte Mann mit seinem Enkel auf dem Schlitten das schwere Gefährt sicher durch die vielen Kurven lenkte. Der stiebende Schnee verdeckte ihnen manchmalfür Sekunden die Sicht. Doch sie sahen ihn sofort, Arnos Vater, der mitten auf dem Weg stand. Der Grossvater bremste und der Schlitten blieb in einer Schneewolke stehen. «Einsteigen, bitte», brummte der alte Mann, und ohne viele Worte setzte sich Arnos Vater zuvorderst auf den Schlitten und steuerte ihn ins Tal hinunter.

* * *

Der Kalender zeigte den 24. Dezember. Die Mutter schaute unentwegt aus dem Küchenfenster den Berghang hinauf. Plötzlich sah sie ihn, den grossen Heuschlitten, wie er stiebend die letzten Kurven hinunterfuhr. Sie stand schon vor der Haustür, als ihr Mann das Gefährt zum Stehen brachte. Hinten sass der alte Mann, den Arm um seinen Enkel gelegt. Sie fröstelte, hatte Angst vor der Begegnung mit dem Schwiegervater. Doch der stieg vom Schlitten, ging direkt auf sie zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte nur: «Ein braver Bub, dein Sohn.»

«Sei willkommen», antwortete die Schwiegertochter, noch ein wenig scheu, und alle gingen ins Haus. Es war Tante Elsa, Grossvaters Schwester, welche die Stille durchbrach: «Höchste Zeit, dass du dich einmal blicken lässt, du dummer Dickschädel.» Leicht betreten schwiegen alle für einen Moment, doch da trat Arno mit seinem Brüderchen an der Hand in die Stube und sagte: «Schau, das ist unser Grossvater, er hat die allerbeste Medizin für deinen schlimmen Husten.»

Später sass man am grossen Tisch bei Most, Käse und Wurst zusammen, und am Nachmittag gab es Kaffee und Weihnachtsgebäck. «Ich habe deine Kammer bereit gemacht», sagte die Mutter, «wir alle wollen heute Abend mit dir Weihnachten feiern.» Das Herz des alten Grossvaters wurde immer wärmer, nicht nur wegen der Flammen im Ofen, und er sagte mit feuchten Augen: «Ich bleibe gerne bei euch.» Es wurde ein schönes Weihnachtsfest. Und dass es dem kleinen Balzli dank den Kräutern des Grossvaters immer besser ging, war für alle das schönste Weihnachtsgeschenk.

Bild: zvg

Bruno Schlatter: Die himmelblaue Weihnachtstasse

Weihnachtsbuch
Wörterseh Verlag
96 Seiten
Fr. 27.90

Bruno Schlatter