Das kantonale Hochbauamt an der Stampfenbachstrasse 110 sieht nicht im Entferntesten nach Kunst aus. Doch wer an der Museumsnacht am 3. September in dessen Betoneingeweide hinabstieg, durfte dort das geheime Wirken der Kunstsammlung des Kantons kennenlernen. Diese öffnete sich zum ersten Mal überhaupt dem Publikum und klärte es über die Früchte einer über 100 Jahre währenden Sammeltätigkeit auf.
Labormäuse in der Artothek
Am 3. September führte der Kunsthistoriker Fabian Steiner, der mit der Museumsnacht sein einjähriges Praktikum an der Kunstsammlung abschloss, das Publikum an Bilder heran, die sonst nur kantonale Angestellte zu Gesicht bekommen – so sie sich hierherbemühen, um aus der sogenannten Artothek etwas für ihre Büros auszusuchen. Düstere, politische und provokante Sachen, sagte Steiner, seien nicht gefragt. Und erzählte dann von einer bizarren Ausnahme.
Früher gab es für die Werke der Artothek kein Inventar. So kommt es vor, dass Werke zurückgebracht werden, die seit langem ausgeliehen und noch nicht inventarisiert sind. Einmal war es ein makabres Bild mit einem Labyrinth und toten Mäusen. Es stellte sich heraus, dass die Ausleihenden, zwei Forscher der ETH, mit Labormäusen gearbeitet und ihre Arbeitssituation im Bild wiedererkannt hatten. Ein solcher Glücksfall, dachte man, werde sich nicht mehr ergeben, rahmte das Bild aus und entfernte es aus der Artothek.
Mainstream-Geschmack scheinen hingegen neuerdings Landschaftsbilder in Öl zu sein. Das Team der Kunstsammlung fragte sich, was der Grund dafür sein könnte. Die wiederentdeckte Wanderlust in Zeiten von Corona? Aber warum waren die Ausleihenden oft junge Leute, wo doch Ölbilder ein verstaubtes Image haben? Erstens, erklärte Steiner, sei hilfreich, dass die Bilder heute keine verschnörkelten Rahmen mehr hätten, und zweitens kenne die junge Generation die Düsterkeit überfrachteter Grosselternwohnzimmern gar nicht mehr, was ihr einen frischen Blick ermögliche …
Förderung und Dokumentation
Doch die Artothek betrifft nur den kleinsten Teil der vorhandenen Kunstschätze und nur weniger wertvolle Sachen, Werke zum Beispiel, deren Zuordnung nicht mehr möglich ist, oder Abzüge von Druckgrafik. Der entscheidende Teil entspringt der Fördertätigkeit des Kantons, wie Caroline Morand, Leiterin der Sammlung, und Kuratorin Fabienne Dubs im Gespräch erläutern: Seit 1908 kauft er, heutzutage auf Empfehlung einer Fachkommission, jedes Jahr neue Werke von im Kanton wirkenden Kunstschaffenden an, um den Nachwuchs zu fördern und auch, um die Entwicklung des kantonalen Kunstschaffens zu dokumentieren. «Zeitgenössisches Ankaufen» nennt das Dubs; es erfolgt in der Regel ein, zwei Jahre nach Entstehung des Werks, manchmal etwas später, in der Folge eines Galerienrundgangs oder eines Atelierbesuchs bei Kunstschaffenden (siehe unten, Bild von Andreas Dobler).
Der Ankauf von Werken arrivierter Künstler ist nicht üblich und wäre aus finanziellen Gründen auch gar nicht möglich. Aber da alle einmal als Nobodys angefangen haben, beherbergt die Kunstsammlung auch Kunst von heute berühmten Persönlichkeiten wie etwa der Zürcher Konkreten Richard Paul Lohse, Max Bill und Verena Loewensberg oder der aktuell wieder hoch gehandelten Heidi Bucher (1926–1993).
10 000 Werke ausser Haus
Auf der Website der Kunstsammlung heisst es, sie verwalte 20 000 Werke. Laut Caroline Morand befinden sich jedoch über die Hälfte ausser Haus. Und an diesem Punkt gehen einem plötzlich die Augen auf: Offensichtlich werden viele Gebäude im Besitz des Kantons in ihren öffentlichen oder halböffentlichen Bereichen von der Kunstsammlung als Ausstellungsräume «bespielt». Und die Beispiele sind beeindruckend. Morand und Dubs können fast nicht aufhören, aufzuzählen. Ein paar Schmuckstücke gefällig?
Im Lichthof der Uni thront die königsblaue Chaiselongue von Pipilotti Rist. Einen Stock höher: eines von nur drei Mosaiken von Augusto Giacometti. Der zur Bibliothek führende Korridor des Rechtswissenschaftlichen Instituts etwas weiter unten an der Rämistrasse: eine Galerie en miniature. Und dann natürlich die Walche. Und die Pädagogische Hochschule an der Lagerstrasse. Oder das Notariat in der Enge und so weiter und so fort …
Die Kunstsammlung wirkt aber auch ganz «konventionell»: mit (Dauer-)Leihgaben, etwa ans Helen-Dahm-Museum in Oetwil am See (siehe unten), ans Fotomuseum Winterthur und – natürlich – ans Kunsthaus Zürich, aber auch ausserkantonal ans Kunstmuseum Luzern (Heidi Bucher) und ans Erni-Museum ebenfalls in Luzern.
Zentrale Aufgabe: Kunst am Bau
Die Website weist darüber hinaus noch eine «Historische Sammlung» aus. Sie beruht einerseits auf Schenkungen, andererseits geht sie auf die Übernahme historischer Gebäude durch den Kanton zurück. Als Beispiel führt Fabienne Dubs die Kyburg bei Winterthur und das 1941 erworbene Schloss Laufen an; Letzteres enthalte eine Gemäldesammlung unter anderem mit – wen wunderts – Ansichten des Rheinfalls aus allen Winkeln.
Kehren wir zur Gegenwartskunst zurück: Eine weitere Fördervariante ist die in der Öffentlichkeit zwangsläufig besser bekannte «Kunst am Bau», die landauf landab immer wieder für erhitzte Gemüter sorgt: Bei vielen Neubauten und Sanierungen gibt der Kanton Kunst in Auftrag. Eine gesetzliche Verpflichtung gibt es laut Morand nicht, doch der Regierungsrat setzt sich für Kunst am Bau ein.
Im Juli zum Beispiel wurde das Kunstwerk «listen to the flowers» von Ursula Palla am Polizei- und Justizgebäude (PJZ) eingeweiht – drei filigrane Disteln (zwei im Aussen-, eine im Innenraum), die aus umgeschmolzenem Waffenmetall hergestellt sind.
Geschmückte Korridore
Bei Kunst am Bau handelt es sich in aller Regel um ortsspezifische Kunst. Mit der Objektkreditgenehmigung für einen Neubau oder eine Sanierung wird ein Kunstkredit frei, das Auftragswerk wird mit der Fertigstellung des Gebäudes realisiert. Danach tritt die Kunstsammlung für gewöhnlich mit einer «Kunstgestaltung» in Aktion, wie Dubs es nennt: Sitzungszimmer und Korridore werden neu mit bestehender Kunst bestückt.
Zu tun gibt es für die Kunstsammlerinnen genug, denn stets befinden sich 15 bis 20 kantonale Kunst-am-Bau-Projekte in Planung. Voll im Gang sind die Bauarbeiten zum Beispiel an der Ausstellungsstrasse im Kreis 5, wo die Baugewerbliche Berufsschule von Grund auf neu entsteht. Wo jetzt noch eine weite Grube klafft, wird in ein paar Jahren auch Kunst zu sehen sein. Um einen in Bronze gegossenen Bauarbeiter am Eingang wird es sich aller Voraussicht nach nicht handeln.