Sonntagabend, 21. August. Nach einem Festivalbeginn mit drei regenreichen Tagen entfaltet die sonst doch ziemlich schmucklose Landiwiese in Wollishofen ihren ganzen Zauber: mit einem Nachmittagshimmel in kräftigem Züriblau, mit Strandleben und Strassenkunst, Bootspartien und Badeplausch, mit einem Gewusel promenierender Menschen, die der Kunst oder des Essens, der Geselligkeit oder des Ambientes wegen hierher gekommen sind.
Das Zürcher Theater Spektakel (ZTS) ist eine spezielle Art von Chilbi, die von Relikten der 1980er-Revolte durchwirkt ist. Es ist ein Vergnügen fürs «Volk», doch wer will, kann eine Schwelle übertreten und sich einer herausfordernden Performance stellen. Irgendjemand hat einst für das ZTS den Ausdruck «fünfte Jahreszeit» geprägt: zweieinhalb Wochen Ausnahmezustand, auf einem verzauberten Flecken Gauklerwiese, mit Blick auf die sich im Abendlicht wärmenden Kirchtürme des zwinglianischen Zürich.
Die Stunde der Schlangen
Als ich um 18.30 Uhr das Gelände betrete, befinde ich mich nach wenigen Metern am Ende jener Schlange, in der die Leute für eine Mahlzeit von «Tao Yuan» anstehen. Es scheint die beliebteste Beiz zu sein, was vielleicht daran liegt, dass sie erstens so nahe am Eingang liegt und zweitens bereits seit 1987 das ZTS ernährt, damals als Pionierin der asiatischen Küche. Auch Adriano und Marianne aus Winterthur, um die 60, stehen geduldig an. Adriano erzählt, sie kämen jedes Jahr ein- oder zweimal hierher. Marianne gefällt es, dass sich Alt und Jung mischen. Das Theaterprogramm erlebt sie als vielfältig – doch früher habe es mehr Unterhaltsames gegeben. Das Wort «anspruchsvoll» fällt mehrfach. Die beiden hatten erwogen, an der Abendkasse eine Karte zu kaufen, doch das heutige Programm, das sie im Zug studierten, sprach sie nicht an. Nach dem Essen und Bummeln werden sie um 21 Uhr hingegen das Gratiskonzert auf der Zentralbühne besuchen.
An der Kasse hat sich ebenfalls eine Schlange gebildet. Dort verrät mir Lisa (39), Pflegefachfrau am Triemli, dass sie jedes Jahr ans Spektakel kommt, seit sie vor vier Jahren nach Zürich gezogen ist. Sie hofft auf ein Billett für das Konzert der russischen Punkgruppe Pussy Riot, die mit ihren Protesten gegen das Putin-Regime berühmt geworden ist. Die Chancen sind klein, aber nicht gleich null, denn am ZTS herrscht die Regel, dass es immer ein Kartenkontingent an der Abendkasse gibt. Sollte es mit der Karte nicht klappen, wird Lisa Freunde treffen, die sich zum Flanieren und Essen verabredet haben.
Die Frische des Beginns
Eine Karte für Pussy Riot im Sack haben hingegen Tina und Ludwig, Ende 60, ein Paar aus dem Kreis 6. Ob sie Stammgäste seien, frage ich. «Wir sind sogar Gönner», sagt Ludwig mit Nachdruck und erklärt, als Gönner könne man schon vor dem offiziellen Verkaufsstart Tickets erwerben. Tina outet sich als Stammgast seit Gründung des Festivals. Der Punk von Pussy Riot sei nicht ihr Stil, aber sie zeigt sich fasziniert vom Widerstandswillen dieser Künstler. Ob sie denn risikofreudig sei? «Nein, ich gehe gern auf Nummer sicher», meint sie. Bei «Waterworks», einer experimentellen Performance von Meg Stuart und ihrem Ensemble auf der Saffa-Insel, sei sie aber ausnahmsweise total frustriert gewesen. Ich frage sie, ob sie im Laufe der Jahrzehnte eine Entwicklung des Programms beobachtet habe. «Es ist eigentlich immer wieder überraschend – und es hat die Frische des Beginns behalten», findet sie. Wenn das kein preiswürdiger Werbespruch ist!