Als Autorin bin ich es gewohnt an verschiedenen Orten zu lesen: Auf kleineren und grösseren Bühnen, in unatmosphärischen Mehrzweckräumen, in vollen Schulzimmern. Oder auf einer verrauchten Lesebühne in einer Berliner Kneipe, auf dem Sofa eines privaten Wohnzimmers, hinter Büchergestellen in Gemeindebibliotheken. Auch mal in einem verwunschenen Garten, mit den Stadtbeobachterinnen und -beobachtern auf der JULL-Lesebühne. Manchmal mit und ohne Mikrofon, vor gelangweiltem und aufmerksamem Publikum, vor vielen und auch vor nur drei Menschen. Aber: noch nie las ich in einer Kirche.
Als mir die Sozialdiakonin vom Kirchenkreis eins Altstadt vorschlägt, die Texte der von uns betreuten Textwerkstatt im St. Peter vorzulesen, bin ich sofort aufgeregt. Ich frage zuerst einmal nach: Wirklich in der Kirche? Also vorne, dort wo üblicherweise der Pfarrer oder die Pfarrerin steht? In diesem uralten Gebäude mit ehrfürchtigen Mauern? Nicht hier im Lavaterhaus, im gemütlichen Arvenstübli mit Holzvertäfelung? Nein, drüben in der Kirche. Die Sozialdiakonin im Lavaterhaus lächelt nur unbekümmert und zieht den Kirchenschlüssel hervor.
Meine religiöse Unbedarftheit
Wir gehen also über den Platz hinüber zur Kirche. Und ich muss ihr noch einmal von meiner religiösen Unbedarftheit als Konfessionslose erzählen. Doch die Sozialdiakonin kennt meine Geschichte bereits und sie lässt sie kalt. Die Kirche steht schliesslich auch den Konfessionslosen offen und anderen Konfessionen sowieso.
Sie führt mich zum Altar – und ich erinnere mich grad noch knapp, dass reformierte Kirchen keinen Altar haben. Der schwarze Marmor ist also der Taufstein und übrigens von 1598. Die Sozialdiakonin hievt die opulente Blumenvase zur Seite, zeigt auf das rollbare Stehpult in der Ecke und fragt: Willst du lieber hier stehen, oder brauchst du das Stehpult?
Achtung vor dem grossen Geläut
Ich liebäugle kurz mit der Kanzel, wir einigen uns dann aber auf den Taufstein und ein Stehmikrofon. Ich frage nach den Leseminuten und die Sozialdiakonin gibt mir viel Spielraum – aber auch den Hinweis, um 19 Uhr beginne dann das grosse Glockengeläut.
Gina Bucher, 42, ist seit 2017 Schreibtrainerin der Stadtbeobachterinnen und -beobachter im Jungen Literaturlabor: «Zu Kirchen habe ich ein gespaltenes Verhältnis, weil ich zu wenig weiss. 1986 war ich noch die einzige konfessionslose Schülerin unserer Primarklasse und die Lehrerinnen und Lehrer wussten nicht, wie sie ‹dieses Problem› im Stundenplan lösen sollten. Unterdessen weiss ich: Manche Kirchenkreise sind offener, als man meinen könnte.»
Für die Pausen zwischen den Textelementen der Lesecollage stellen wir eine Klangschale auf den Taufstein. Geschrieben haben die Texte Männer und Frauen, junge und alte, die für die «Aktion Erfahrungsschatz» über einen persönlichen Wendepunkt geschrieben haben. Die Lektüre ist eine emotionale Achterbahnfahrt. Die Texte sind hadernd und versöhnend, mal traurig, mal mutig, hier demütig, dort fordernd. In allen Fällen sind sie berührend.
An einem Mittwoch, mitten im Sommer, punkt 18 Uhr ist es schliesslich soweit: Ich stehe am Taufstein im barocken Emporensaal, fühle mich trotz Turnschuhen und sportlichem Pullover wahrhaftig priesterlich, schaue zu den Stuckaturen hoch. Ich wundere mich, dass sich die übliche Lesungs-Nervosität nicht einstellen will. Und ärgere mich dann gleich, dass die Klangschale, von mir angestossen, viel länger klingt als geplant. Ja, die Akustik ist wirklich fantastisch in dieser ältesten Pfarrkirche Zürichs! Ich verstehe erst jetzt, wie die Architektur dieses Kirchenschiffs jedem Wort eine ganz eigene Wucht verleiht. Auch der Pianist muss sich auf die Situation einstellen, beginnt seine Stücke abzukürzen, damit unsere Lesung nicht doch noch Uhr vom grossen Glockengeläut unterbrochen wird.
Das nächste Mal im Tram
Nach der Lesung fragt mich eine Zuhörerin, ob ich «da vorne» die Ruhe gespürt hätte, und ich weiss sofort, was sie meint. Sie erzählt mir von den Sonntagsmessen in der katholischen Kirche ihrer Kindheit. Ihre Erinnerungen sind zwiespältig, aber sie versteht, was ich meine, wenn ich nach dieser neuen Erfahrung sage: Das kann süchtig machen! Wir lächeln beide wissend.
Zum Abschied flüstere ich ihr zu: Das nächste Mal lese ich im Tram – mit den JULL-Stadtbeobachterinnen und -beobachtern. Im Tram? Ja, im 4er-Tram, am 31. Oktober, um halb zwei, kurz nach den Sonntagsgottesdiensten.
Gina Bucher, 42, ist seit 2017 Schreibtrainerin der Stadtbeobachterinnen und -beobachter im Jungen Literaturlabor: «Zu Kirchen habe ich ein gespaltenes Verhältnis, weil ich zu wenig weiss. 1986 war ich noch die einzige konfessionslose Schülerin unserer Primarklasse und die Lehrerinnen und Lehrer wussten nicht, wie sie ‹dieses Problem› im Stundenplan lösen sollten. Unterdessen weiss ich: Manche Kirchenkreise sind offener, als man meinen könnte.»